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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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erinnere ich mich. Du warst unhöflich.«
    »Ich war müde und verbittert. Ein Polizist ist ermordet worden. Das Fest war natürlich danach nur noch fad. Man konnte nicht mehr fröhlich sein.«
    Der Vater nickte, sagte aber nichts. Er setzte sie in der Mariagata ab.
    »Was macht der Sadist?«
    Er verstand zuerst nicht, was sie meinte.
    »Der Tierquäler. Die brennenden Schwäne.«
    »Das war bestimmt nur jemand, der sich wichtig machen wollte. Es wohnen ziemlich viele Leute in der Nähe des Sees. Irgend jemand müßte doch etwas bemerkt haben. Wenn es wirklich stimmt.«
    Kurt Wallander fuhr ins Präsidium zurück. Als Linda in die Wohnung hinaufkam, sah sie neben dem Telefon einen Zettel mit seiner Schrift. Es ging um Anna. Ein Anruf vom Abend vorher.
Ruf mich an. Wichtig.
Daneben hatte der Vater einen Kommentar gekritzelt, den sie nicht entziffern konnte. Sie rief ihn im Büro an:
    »Warum hast du nicht gesagt, daß Anna angerufen hat?!«
    »Ich habe es vergessen.«
    »Was steht da? Was du daneben geschrieben hast?«
    »Ich fand, daß sie besorgt wirkte.«
    »Was meinst du damit?«
    »Das, was ich sage. Daß sie besorgt wirkte. Am besten, du rufst sie an.«
    Linda wählte Annas Nummer. Zuerst war besetzt, dann meldete sich niemand. Später versuchte sie es noch einmal, vergeblich. Gegen sieben, nachdem sie und ihr Vater zu Abend gegessen hatten, zog sie ihre Jacke an und ging zu Annas Wohnung und klingelte. Als Anna aufmachte, sah Linda sogleich, was ihr Vater gemeint hatte. Annas Gesicht war verändert. Ihre Augen flackerten unruhig. Sie zog Linda in den Flur und schlug die Tür zu.
    Als habe sie es eilig, die Umwelt auszuschließen.
    Plötzlich erinnerte sich Linda an Annas Mutter, Henrietta. Eine magere Frau, mit ruckhaften und nervösen Bewegungen. Linda hatte immer Angst vor ihr gehabt. Es war wie eine fixe Idee über sie gekommen, daß Annas Mutter wie eine leicht zerbrechliche Vase war, die zerspringen konnte, wenn jemand zu laut sprach, eine heftige Bewegung machte oder die Stille störte, die das Wichtigste in ihrem Leben zu sein schien.
    Linda erinnerte sich an das erste Mal, als sie Annas Zuhause besucht hatte. Sie war acht oder neun, Anna ging in ihre Parallelklasse, und warum sie sich mochten, konnten sie nie beantworten. Wir mochten uns eben, dachte Linda. Sonst nichts. Jemand steht da und wirft unsichtbare Bänder um Menschen und verknotet sie. So war es mit Anna und mir. Wir waren unzertrennlich, bis dieser picklige Junge zwischen uns trat und wir uns beide in ihn verliebten.
    Annas verschwundener Vater war für sie nur noch ein Mann auf ein paar vergilbten Fotos. Aber in ihrer Wohnung waren keine Bilder zu sehen. Henrietta hatte alle Spuren beseitigt, als wolle sie ihrer Tochter zu verstehen geben, daß ihr Vater nie mehr wiederkommen würde. Er war gegangen, um nicht zurückzukommen. Die Fotos hatte Anna in einer Schublade aufbewahrt, gut versteckt zwischen ihrer Unterwäsche. Linda erinnerte sich an einen Mann mit langen Haaren und Brille, der schaute, als sei das Bild gegen seinen Willen aufgenommen worden. Anna hatte ihr die Fotos in höchster Vertraulichkeit gezeigt. Als sie Freundinnen wurden, war ihr Vater seit zwei Jahren verschwunden. Anna leistete einen wortlosen Widerstand gegen die Art und Weise, in der ihre Mutter in der Wohnung und in ihrer beider Leben jede Spur des Vaters tilgte. Als die Mutter seine letzten Kleider in einen Papiersack gestopft und ihn zum Müll in den Keller gestellt hatte, war Anna in der Nacht hinuntergegangen und hatte sich ein Paar Schuhe und ein Hemd herausgesucht. Sie hatte die Sachen unter ihrem Bett versteckt. Für Linda hatte der verschwundene Vater etwas Abenteuerliches. Oft wünschte sie sich, es wäre umgekehrt und ihre streitenden Eltern wären verschwunden, wie graue Streifen von Rauch an einem blauen Himmel.
    Sie setzten sich aufs Sofa. Anna lehnte sich zurück, so daß ihr Gesicht halb im Schatten blieb.
    »Wie war euer Ball?«
    »Wir bekamen zum Tanz einen toten Polizisten. Da war es vorbei. Aber das Kleid war prima.«
    Ich kenne das, dachte Linda. Anna kommt nie direkt zur Sache. Wenn sie etwas Wichtiges zu sagen hat, braucht es seine Zeit. Deshalb fragte sie:
    »Und wie geht es deiner Mutter?«
    »Gut.«
    Plötzlich stutzte Anna jedoch.
    »Gut? Warum sage ich ›gut‹? Es geht ihr schlechter denn je. Seit zwei Jahren schreibt sie an einem Requiem über ihr eigenes Leben, ›Die namenlose Messe‹ nennt sie es. Zweimal hat sie die Noten ins Feuer

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