Vor dem Frost
ihren Willen fortgebracht haben?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht.«
»Warum hat sie nicht um Hilfe gerufen?«
Linda schüttelte den Kopf.
Kurt Wallander beantwortete die Frage selbst und stand auf. »Vielleicht konnte sie nicht rufen.«
»Du meinst, daß sie sich nicht an ihn klammerte? Daß sie unter Drogen stand? Daß sie zusammengeklappt wäre, wenn er sie nicht gehalten hätte? Daß es also statt ›sich klammern‹ ›hängen‹ heißen müßte?«
»So stelle ich es mir vor.«
Er eilte zu seinem Zimmer, Linda hatte Schwierigkeiten, mit ihm Schritt zu halten. Unterwegs klopfte er an Stefan Lindmans halboffene Tür und schob sie auf. Das Zimmer war leer. Martinsson kam über den Flur, er hatte einen großen Teddy im Arm.
»Was soll das denn?« fragte Wallander irritiert.
»Ein Bär made in Taiwan. Er hat eine Partie Amphetamin im Bauch.«
»Darum soll sich jemand anders kümmern.«
»Ich bin gerade auf dem Weg, ihn an Svartman weiterzureichen«, erwiderte Martinsson und verbarg nicht, daß er seinerseits irritiert war.
»Versuche, so viele wie möglich in einer halben Stunde zu einer Besprechung zusammenzutrommeln.«
Martinsson verschwand. Die Porzellanscherben lagen noch immer auf dem Tisch, das war das erste, was sie sah, als sie ins Zimmer trat.
»Ich habe nicht vor, den Stier zu kleben«, sagte er. »Aber ich habe mir gedacht, daß ich die Scherben liegen lasse, bis all dies hier eine Lösung gefunden hat.«
Er beugte sich über den Tisch zu ihr hin. »Du hast Jassar nicht gefragt, ob er diesen Mann etwas hat sagen hören?«
»Daran habe ich nicht gedacht.«
Er hielt ihr den Telefonhörer hin. »Ruf ihn an.«
»Ich weiß nicht, welche Telefonnummer der Laden hat.«
Er wählte die Nummer der Auskunft, und Linda ließ sich sofort mit dem Laden verbinden. Jassar war am Apparat. Er hatte den Mann nichts sagen hören.
»Ich fange wirklich an, mir Sorgen zu machen«, sagte er. »Was ist eigentlich passiert?«
»Nichts«, antwortete Linda. »Danke für die Hilfe.«
Sie reichte den Hörer zurück. »Kein Wort.«
Ihr Vater saß da, schaukelte auf dem Stuhl vor und zurück und betrachtete seine Hände. Draußen im Flur erklangen Stimmen und entfernten sich wieder.
»Die Sache gefällt mir nicht«, sagte er schließlich. »Die Nachbarin hat natürlich recht. Niemand läßt ein so kleines Kind allein in einer Wohnung zurück.«
»Da ist etwas, was ich fühle«, sagte Linda. »Etwas, worauf ich kommen müßte, etwas, was ganz in meiner Nähe ist. Ich sollte einen Zusammenhang sehen, das, wovon du immer redest, aber ich sehe nichts.«
Er betrachtete sie aufmerksam. »Als ob du eigentlich schon verstehst, was geschehen ist? Und warum?«
Sie schüttelte unschlüssig den Kopf. »Eher so, daß ich es auf eine Weise erwartet habe. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Aber es ist, als wäre nicht Zebra verschwunden, sondern Anna zum zweitenmal.«
Er sah sie lange an, bevor er redete. »Kannst du erklären, was du meinst?«
»Nein.«
»Wir geben dir und Zebra ein paar Stunden«, sagte er. »Wenn sie nicht zurückkehrt und du nicht darauf kommst, was du weißt, ohne es zu verstehen, müssen wir reagieren. Ich möchte, daß du bis dahin hierbleibst.«
Sie folgte ihm zum Besprechungsraum. Als alle versammelt waren und die Tür geschlossen war, berichtete er als erstes von Zebras Verschwinden. Die Stimmung in der Runde war angespannt.
»Es verschwinden zu viele«, endete Kurt Wallander. »Verschwinden, kommen zurück, verschwinden wieder. Sei es durch Zufall oder aufgrund von Ursachen, die wir noch nicht begreifen, spielen sich diese Dinge um meine Tochter herum ab. Was natürlich bedeutet, daß mir das Ganze noch weniger gefällt.«
Er ließ das Bleistiftende auf den Tisch fallen und wieder hochspringen und erzählte von seinem Gespräch mit Anita Tademan. Linda versuchte sich zu konzentrieren, aber es gelang ihr nicht. Sie schüttelte sich. Stefan Lindman sah sie mit einem leichten Lächeln an. Sie lächelte zurück und hörte wieder ihrem Vater zu.
»Anita Tademan ist kaum das, was man eine freundliche Frau nennen würde. Sie könnte eher als gutes Beispiel für die arroganteste und eingebildetste schonische Oberklasse dienen, die immer noch auf Schlössern und Gütern hier in der Gegend sitzt. Aber sie hat recht daran getan, herzukommen, denn sie hatte wichtige Dinge mitzuteilen. Einer ihrer Verwandten, der auf dem Grund und Boden von Rannesholm wohnt, hat Menschen gesehen, die sich in der
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