Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
Vom Netzwerk:
klingelte.
    Er meldete sich, lauschte, schaltete aus und erhöhte das Tempo. »Dein Vater hat mit Anita Tademan gesprochen«, sagte er. »Offenbar ist dabei etwas Wichtiges herausgekommen.«
    »Du sagst ihm besser nicht, daß ich mitgewesen bin«, sagte Linda. »Er war ja wohl der Meinung, daß ich heute etwas ganz anderes tun sollte.«
    »Was?«
    »Mit Anna reden.«
    »Das schaffst du auch noch.«
    Stefan Lindman setzte sie im Zentrum von Ystad ab. Als sie zu Anna kam, sah sie sofort, daß etwas passiert war. Anna hatte Tränen in den Augen.
    »Zebra ist verschwunden«, sagte sie. »Der Junge hat so geschrien, daß die Nachbarn anfingen, sich Sorgen zu machen. Er war allein in der Wohnung. Und Zebra war verschwunden.«
    Linda hielt den Atem an. Die Angst kam über sie wie ein plötzlicher Schmerz. Jetzt wußte sie, daß sie einer schrecklichen Wahrheit sehr nahe war, die sie schon früher hätte verstehen sollen.
    Sie blickte in Annas Augen. Da sah sie ihre eigene Angst.
    Die Situation war für Linda glasklar und verwirrend zugleich. Zebra würde freiwillig, aus Nachlässigkeit oder Vergeßlichkeit, nie ihren Sohn allein lassen. Also war etwas passiert. Aber was konnte passiert sein? Es war etwas, was sie verstehen müßte, etwas ganz dicht vor ihr, ohne daß sie es begriff. Das, wovon ihr Vater immer sprach: man mußte den Zusammenhang suchen. Sie fand nichts.
    Da Anna noch verwirrter zu sein schien als sie selbst, sofern das überhaupt möglich war, übernahm Linda das Kommando. Sie schob Anna in die Küche, drückte sie auf einen Stuhl und ließ sie erzählen. Obwohl Anna ruckhaft und unzusammenhängend sprach, brauchte Linda nicht lange, um zu verstehen, was geschehen war.
    Die Nachbarin, die häufig auf den Jungen aufpaßte, hatte ihn durch die dünne Wand ungewöhnlich lange weinen hören, ohne daß Zebra eingriff. Sie rief bei Zebra an, bekam aber keine Antwort und klingelte deshalb an der Tür, doch nur einmal, weil sie jetzt sicher war, daß Zebra nicht in der Wohnung war. Sie hatte einen Schlüssel, öffnete und fand den Jungen allein. Als er sie sah, hörte er auf zu weinen.
    Die Nachbarin, Aina Rosberg, hatte in der Wohnung nichts Ungewöhnliches bemerkt. Die Zimmer waren unaufgeräumt wie immer, aber es herrschte kein Chaos, sagte Anna. Genau die Worte hatte die Nachbarin benutzt, ›kein Chaosc. Dann hatte Aina Rosberg eine von Zebras Kusinen angerufen, Titchka, die aber nicht zu Hause war, und anschließend Anna.
    So hatten Zebra und sie es verabredet; wenn etwas passierte, zuerst die Kusine, dann Anna.
    »Wie lange ist das her?« fragte Linda, als Anna geendet hatte.
    »Zwei Stunden.«
    »Hat Aina Rosberg nicht wieder angerufen?«
    »Ich habe sie angerufen. Aber Zebra ist noch nicht zurückgekommen.«
    Linda überlegte. Am liebsten würde sie jetzt mit ihrem Vater sprechen. Andererseits wußte sie schon, was er sagen würde: Zwei Stunden waren zuwenig. Es gab mit Sicherheit eine natürliche Erklärung. Aber warum sollte Zebra verschwinden?
    »Wir fahren hin«, sagte Linda. »Ich will ihre Wohnung sehen.«
    Anna erhob keine Einwände. Zehn Minuten später öffnete Aina Rosberg ihnen die Tür von Zebras Wohnung.
    »Wo kann sie nur sein?« sagte Aina Rosberg erregt. »Das sieht ihr überhaupt nicht ähnlich. Niemand tut so etwas, keine Mutter verläßt ihr Kind. Was wäre passiert, wenn ich ihn nicht gehört hätte?«
    »Sie kommt bestimmt bald zurück«, sagte Linda. »Am besten wäre es, wenn der Junge solange bei Ihnen bleiben könnte.«
    »Natürlich kann er bei mir bleiben«, sagte Aina Rosberg.
    Als Linda Zebras Wohnung betrat, nahm sie einen eigentümlichen Geruch wahr. Eine kalte Hand legte sich um ihr Herz; sie verstand, daß etwas Ernstes geschehen war. Zebra war nicht freiwillig verschwunden.
    »Riechst du das?« fragte Linda.
    Anna schüttelte den Kopf.
    »Stark und beißend, wie Essig.« »Ich rieche nichts.«
    Linda setzte sich in die Küche, Anna ins Wohnzimmer. Linda konnte sie durch die offene Tür sehen. Sie war nervös und kniff sich ständig in die Arme. Linda versuchte, ruhig und klar zu denken. Sie stellte sich ans Fenster und sah hinaus auf die Straße. Sie versuchte Zebra vor sich zu sehen, wie sie unten aus der Haustür trat. In welche Richtung ging sie, rechts oder links? War sie allein? Linda betrachtete den Tabakladen schräg gegenüber. Ein kräftiger Mann stand in der Tür und rauchte. Wenn ein Kunde kam, ging er mit hinein und kam anschließend wieder heraus. Linda dachte,

Weitere Kostenlose Bücher