Vor dem Frost
von Martinssons dänischen Papieren vom Tisch. Sie sammelte sie auf und entdeckte dabei ein Foto von Sylvi Rasmussen. Eingehend betrachtete sie ihr Gesicht. Aus ihren Augen sprach ein Schrecken. Linda lief es kalt den Rücken hinunter beim Gedanken an Sylvi Rasmussens tragisches Schicksal.
Als sie die Papiere zurücklegen wollte, blieb ihr Blick an ein paar Zeilen auf einer der Seiten hängen. Sylvi Rasmussen hatte dem Gerichtsmediziner zufolge zwei oder drei Abtreibungen hinter sich. Linda starrte auf das Papier. Sie dachte an zwei dänische Segler an einem Ecktisch, den Jungen, der am Boden spielte, und Zebra, die plötzlich anfing, von ihrer Abtreibung zu sprechen. Sie dachte auch an Annas heftige Reaktion. Sie stand ganz still am Tisch, hielt den Atem an und starrte auf das Foto von Sylvi Rasmussen.
Ihr Vater kam zurück ins Zimmer.
»Ich glaube, ich verstehe«, sagte sie.
»Was verstehst du?«
»Ich habe eine Frage. Diese Frau aus Tulsa.«
»Was ist mit ihr?«
Sie schüttelte den Kopf und zeigte auf die Tür. »Ich möchte, daß du sie zumachst.«
»Wir sind mitten in einer Besprechung.«
»Ich kann nicht denken, wenn alle dabei sind. Aber ich glaube, ich habe etwas Wichtiges zu sagen.«
Er sah sie an und spürte, daß es ihr ernst war. Er machte die Tür hinter sich zu.
Es war das erste Mal, dachte Linda, daß ihr Vater sie ganz vorbehaltlos und ohne Skepsis zu zeigen ernst nahm. Zumindest seit sie erwachsen war. Als sie noch ein Kind war, in den schwersten Zeiten der Ehe ihrer Eltern, hatte sie in der unbewußten, aber dennoch absolut sicheren Art des Kindes gespürt, daß er sie ernst nahm. Dann kam eine Periode, in der er mehr zu dem reizbaren Bruder geworden war, nach dem sie sich im Innersten vielleicht sehnte. Danach waren andere, scharf voneinander getrennte, sehr unterschiedliche, doch stets schwerwiegende Verhaltensweisen gekommen. Noch immer erinnerte sie sich mit einem Schaudern an die Male, als er auf ihre Freunde eifersüchtig gewesen war.
Bei mindestens zwei Gelegenheiten hatte er ihre unschuldigen Verehrer handgreiflich hinausgeworfen, bei einer anderen Gelegenheit hatte er ihr eines späten Abends im Sportboothafen von Ystad nachspioniert.
Die Gedanken rasten ihr durch den Kopf. Ihr Vater spürte, wie ernst es ihr war, steckte den Kopf durch die Tür nach draußen und sagte jemandem, die Sitzung sei für eine Weile unterbrochen. Jemand protestierte, aber er schloß einfach die Tür.
Sie setzten sich einander gegenüber an den Tisch. »Was wolltest du fragen?«
»Hat diese Frau namens Harriet Bolson einmal eine Abtreibung gehabt? Hat Birgitta Medberg abgetrieben? Wenn es so ist, wie ich glaube, lautet die Antwort ›ja‹ für die Frau aus Tulsa, aber ›nein‹ bei Birgitta Medberg.«
Er runzelte die Stirn, zuerst verständnislos, dann ungeduldig. Er zog seine Papiere an sich und blätterte sie mit wachsender Irritation durch. Er warf die Mappe zur Seite. »Kein Wort von einer Abtreibung.«
»Steht da alles über sie?«
»Natürlich nicht. Die Lebensbeschreibung eines Menschen, wie uninteressant oder unbedeutend dieses Leben auch gewesen sein mag, füllt entschieden mehr Seiten, als in diese Mappe passen. Harriet Bolson scheint nicht der spannendste Mensch gewesen zu sein, den man sich denken kann. Aber ob sie eine so dramatische Handlung begangen hat wie eine Abtreibung, kann ich dem Material, das Clark Richardson aus den USA geschickt hat, nicht entnehmen.«
»Und Birgitta Medberg?«
»Das weiß ich nicht. Aber es kann nicht schwer sein, das herauszufinden. Wir brauchen ja nur ihre widerwärtige Tochter anzurufen. Aber so etwas erzählt man seinen Kindern vielleicht nicht? Mona hat meines Wissens nie abgetrieben. Weißt du etwas davon?«
»Nein.«
»Heißt das, daß du es nicht weißt, oder daß sie es nie getan hat?«
»Mama hat nie abgetrieben. Das würde ich wissen.«
»Ich verstehe das hier nicht, ich begreife nicht, was daran so wichtig ist.«
Linda versuchte nachzudenken. Sie konnte sich natürlich irren, aber gleichzeitig war sie überzeugt davon, daß sie recht hatte. »Kann man versuchen, herauszubekommen, ob sie eine Abtreibung hatte oder nicht?«
»Ich tue es, wenn du mir erklärst, warum es wichtig ist.«
Linda spürte, daß etwas riß. Sie fing an zu weinen und schlug mit den Fäusten hart auf die Tischplatte. Sie haßte es, vor ihrem Vater zu weinen. Nicht nur vor ihm, vor allen. Der einzige, vor dem sie hatte weinen können, ohne daß es sie gequält
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