Vor dem Frost
es könnte einen Versuch wert sein.
Anna saß immer noch reglos auf dem Sofa.
Linda streichelte ihr den Arm.
»Zebra kommt bestimmt zurück«, sagte sie. »Es ist sicher nichts passiert. Ich gehe nur für ein paar Minuten hinunter in den Tabakladen. Ich bin gleich zurück.«
Ein Aufkleber an der Ladenkasse hieß alle Kunden willkommen in Jassars Geschäft. Linda kaufte Kaugummi.
»Gegenüber wohnt eine junge Frau«, sagte sie. »Zeba. Kennen Sie sie?«
»Zebra? Klar. Ich gebe ihrem Jungen immer was, wenn ich sie sehe.«
»Haben Sie Zebra heute gesehen?«
Seine Antwort kam ohne jedes Zögern. »Vor ein paar Stunden. Ungefähr um zehn. Ich steckte gerade eine der Flaggen wieder auf, die heruntergeweht war. Ich begreife nicht, wie Flaggen herunterwehen können, wenn kein Wind ist.«
»War sie allein?« unterbrach Linda ihn.
»Sie war mit einem Mann zusammen.«
Lindas Herz schlug schneller. »Haben Sie ihn schon früher gesehen?«
Jassar machte plötzlich eine sorgenvolle Miene. Anstatt zu antworten, stellte er selbst Fragen. »Warum wollen Sie das wissen? Wer sind Sie?«
»Sie müssen mich schon gesehen haben. Ich bin eine Freundin von Zebra.«
»Warum stellen Sie all diese Fragen?«
»Ich muß es wissen.«
»Ist etwas passiert?«
»Es ist nichts passiert. Haben Sie den Mann früher schon einmal gesehen?«
»Nein. Er hatte ein kleines graues Auto. Er war groß, und hinterher dachte ich, daß Zebra sich an ihn angelehnt hatte.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich meine es so, wie ich es sage. Sie lehnte sich an ihn, klammerte sich an ihn, als müsse sie sich stützen.«
»Können Sie den Mann beschreiben?«
»Er war groß, mehr nicht. Er trug einen Hut. Und einen langen Mantel.«
»Einen Hut?«
»Einen grauen Hut. Oder blau. Langer Mantel, auch grau. Oder blau. Alles an ihm war grau oder blau.«
»Und die Wagennummer?«
»Weiß ich nicht.«
»Marke?«
»Weiß ich nicht. Warum stellen Sie all diese Fragen? Sie kommen hier herein und machen mir angst, als wären Sie von der Polizei.«
»Ich bin von der Polizei«, sagte Linda und verließ den Laden.
Als sie wieder in die Wohnung hinaufkam, saß Anna immer noch wie gelähmt auf dem Sofa. Wieder hatte Linda das Gefühl, daß da etwas war, was sie sehen, einsehen, durchschauen müßte, sie konnte nur nicht erkennen, was.
Sie setzte sich neben Anna.
»Du mußt zu Hause bleiben. Falls Zebra anruft. Ich fahre ins Polizeipräsidium und spreche mit meinem Vater. Du mußt mich hinfahren.«
Anna drückte plötzlich Lindas Arm so fest, daß Linda zusammenzuckte. Ebenso unvermittelt, wie Anna zugedrückt hatte, ließ sie Lindas Arm wieder los. Linda fand Annas Reaktion sonderbar. Vielleicht nicht die Reaktion an sich, aber daß sie so heftig war.
Als Linda in die Anmeldung kam, rief ihr jemand zu, ihr Vater sei bei der Staatsanwaltschaft, auf der anderen Seite. Sie ging hinüber. Die Tür war verschlossen.
Eine Schreibkraft, die sie kannte, ließ sie herein. »Ich nehme an, Sie suchen Ihren Vater? Er ist im kleinen Konferenzraum.«
Sie zeigte den Flur hinunter. An der Tür leuchtete ein rotes Licht. Linda setzte sich in einen kleinen Warteraum daneben. Die Gedanken rasten nur so durch ihren Kopf. Sie vermochte nicht, langsam und systematisch zu denken und alle Fragmente zu einer haltbaren Kette zusammenzusetzen.
Sie wartete gut zehn Minuten. Da trat Ann-Britt Höglund aus der Tür und sah sie erstaunt an. Sie wandte sich in den Raum zurück. »Du hast wichtigen Besuch«, sagte sie und ging.
Ihr Vater kam zusammen mit einem sehr jungen Staatsanwalt heraus. Kurt Wallander stellte seine Tochter vor. Der Staatsanwalt ging. Linda zeigte auf einen Stuhl im Warteraum. Er setzte sich. Sie erzählte, was geschehen war, und versuchte nicht einmal, es systematisch und mit allen Details in der richtigen Reihenfolge zu tun. Er schwieg lange, nachdem sie geendet hatte. Dann stellte er ein paar Fragen, vor allem in bezug auf die Beobachtungen, die Jassar gemacht hatte. Er kehrte mehrmals zu dem Punkt zurück, daß Jassar gesagt hatte, Zebra habe sich an den Mann ›geklammert‹.
»Ist Zebra eine Frau, die sich an jemanden klammert?«
»Eher sind es die Männer, die sich an sie klammern. Sie ist hart und vermeidet es, ihre Schwächen zu zeigen, auch wenn sie ziemlich viele hat.«
»Was ist deine Erklärung für das, was passiert ist?«
»Genau, was du sagst. Daß etwas passiert ist.«
»Der Mann, in dessen Gesellschaft sie aus dem Haus kam, sollte sie also gegen
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