Vor dem Frost
erkannte ihn sofort. Er war magerer als auf den Fotos, die Anna ihr gezeigt hatte, den Bildern, die in ihren Schubladen versteckt gewesen waren. Er trug einen Anzug und ein dunkelblaues, bis zum Hals geknöpftes Hemd. Sein Haar war zurückgekämmt und im Nacken lang. Die Augen waren hellblau, genau wie Annas, und es war jetzt deutlicher zu erkennen als auf den Fotos, wie stark Anna ihrem Vater glich. Er stand im Schatten neben der Tür und sah sie an.
Er lächelte. »Du mußt keine Angst haben«, sagte er freundlich und kam mit ausgestreckten Händen auf sie zu, als wolle er zeigen, daß er unbewaffnet war und keine aggressiven Absichten hatte.
Ein Gedanke schoß durch Lindas Kopf, als sie die ausgestreckten, offenen Hände sah:
Anna hatte eine Waffe in der Manteltasche. Deshalb kam sie zum Polizeipräsidium. Um mich zu töten. Aber sie schaffte es nicht.
Der Gedanke ließ Lindas Knie zittern. Sie wankte, und Erik Westin streckte die Hand vor und half ihr, sich zu setzen.
»Du mußt keine Angst haben«, wiederholte er. »Ich bedaure, daß ich gezwungen war, dich mit verbundenen Augen in einem Auto warten zu lassen. Es tut mir auch leid, daß ich gezwungen bin, dich noch ein paar Stunden hier festzuhalten. Dann kannst du gehen.«
»Wo bin ich?«
»Darauf kann ich dir keine Antwort geben. Das einzige, was etwas bedeutet, ist, daß du keine Angst hast. Und daß du auf eine Frage antwortest.«
Seine Stimme war noch immer freundlich, sein Lächeln wirkte echt. Linda war verwirrt.
»Ich muß wissen, was du weißt«, sagte Erik Westin.
»Worüber?«
Er betrachtete sie, immer noch lächelnd. »Das war keine gute Antwort«, sagte er langsam. »Ich könnte die Frage deutlicher stellen. Aber das brauche ich nicht, weil du verstehst, was ich meine. Du bist Anna gestern abend gefolgt, du hast zu einem Haus am Meer gefunden.«
Linda entschloß sich rasch. Das meiste, was ich sage, muß wahr sein, sonst durchschaut er mich. Es gibt keine Alternative, dachte sie und verschaffte sich ein wenig Zeit, indem sie sich die Nase putzte.
»Ich war bei keinem Haus. Ich habe einen Wagen gefunden, der im Wald stand. Aber es ist richtig, daß ich nach Anna gesucht habe.«
Er wirkte abwesend, aber Linda sah, daß er über ihre Antwort nachdachte. Sie hatte jetzt seine Stimme erkannt. Er war derjenige, der in dem Haus am Strand einer für sie unsichtbaren Gemeinde gepredigt hatte. Auch wenn seine Stimme und sein ganzes Wesen eine große und freundliche Ruhe ausstrahlten, durfte sie nicht vergessen, was er in der Nacht gesagt hatte.
Er sah sie wieder an. »Du warst bei keinem Haus?«
»Nein.«
»Warum bist du Anna gefolgt?«
Keine weiteren Lügen, dachte Linda. »Ich mache mir Sorgen um Zebra.«
»Wer ist das?«
Jetzt war er derjenige, der log, und sie verbarg, daß sie das erkannte.
»Zebra ist eine gemeinsame Freundin. Sie ist verschwunden.«
»Warum sollte Anna wissen, wo sie sich befindet?«
»Sie wirkte so angespannt.«
Er nickte. »Vielleicht sagst du die Wahrheit. Wir werden es noch früh genug erfahren.«
Er stand auf, ohne mit dem Blick ihre Augen loszulassen. »Glaubst du an Gott?«
Nein, dachte Linda. Aber ich weiß, was du hören willst. »Ich glaube an Gott.«
»Wieviel der Glaube wert ist, werden wir bald wissen«, sagte er. »Wie es in der Bibel heißt: ›Bald sind unsere Widersacher ausgerottet, und ihren Überfluß hat das Feuer verzehrte.«
Er ging zur Tür und öffnete sie. »Du brauchst nicht länger allein zu sein«, sagte er zu Linda.
Zebra kam herein, hinter ihr Anna. Hinter den beiden ließ Erik Westin die Tür zufallen, ein Schlüssel wurde von außen im Schloß umgedreht.
Linda starrte Zebra an, dann Anna. »Was tust du?«
»Nur das, was getan werden muß.«
Annas Stimme klang fest, aber angestrengt und feindlich.
»Sie ist wahnsinnig«, sagte Zebra, die auf einen Stuhl gesunken war. »Vollkommen wahnsinnig.«
»Nur wer ein unschuldiges Kind tötet, kann wahnsinnig sein. Das ist ein Verbrechen, für das man bestraft werden muß.«
Zebra sprang auf und griff nach Lindas Arm.
»Sie ist wahnsinnig«, schrie sie. »Anna behauptet, ich sollte dafür bestraft werden, daß ich einmal abgetrieben habe.«
»Laß mich mit Anna reden«, sagte Linda.
»Mit Irren kann man nicht reden«, schrie Zebra.
»Ich glaube nicht, daß sie eine Irre ist«, sagte Linda so ruhig, wie sie es vermochte.
Sie stellte sich vor Anna und sah ihr gerade in die Augen. Fieberhaft versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen.
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