Vor dem Frost
Vater.
Es ist zu spät, dachte Linda. Sie schrie und fluchte und beschwor das Telefon, noch ein ganz bißchen durchzuhalten. Die Maschine kam näher und näher, das Handy piepte. Linda rief, als die heulenden Motoren des Flugzeugs sich genau zwischen ihren Ohren befanden.
»Dann haben wir dich ziemlich gut lokalisiert«, sagte Janne Lundwall. »Nur noch eine Frage.«
Was er hatte fragen wollen, erfuhr Linda nicht mehr. Das Handy gab den Geist auf. Linda machte es aus und legte es in einen Schrank, in dem verschiedene Gewänder und Umhänge hingen. Hatte es ausgereicht, um die Kirche zu identifizieren? Sie konnte es nur hoffen. Zebra sah sie an. »Es wird gut«, sagte Linda. »Sie wissen, wo wir sind.« Zebra antwortete nicht. Ihr Blick war glasig. Sie krallte sich so fest an Lindas Handgelenk, daß ihre Nägel in die Haut drangen und Blut austrat. Wir haben beide gleich viel Angst, dachte Linda. Aber ich muß wenigstens so tun, als hätte ich keine. Ich muß dafür sorgen, daß Zebra ruhig bleibt. Wenn sie in Panik gerät, könnte es sein, daß unsere Wartezeit verkürzt wird. Die Wartezeit worauf? Sie wußte es nicht. Aber wenn es nun so war, daß Anna ihrem Vater erzählt hatte, Zebra habe einmal abgetrieben, und wenn eine Abtreibung der Grund für Harriet Bolsons Tod in der Kirche von Frennestad war, dann bestand kein Zweifel daran, was beabsichtigt war.
»Es wird gutgehen«, flüsterte sie. »Sie sind jetzt unterwegs.«
Wie lange sie gewartet hatten, konnte Linda nicht sagen. Es mochte eine halbe Stunde gewesen sein, vielleicht mehr. Dann kam es wie ein Donnerknall aus dem Nichts. Die Tür wurde aufgestoßen. Drei Männer kamen herein und packten Zebra, zwei andere griffen Linda. Sie wurden aus dem Raum gezerrt. Alles ging so schnell, daß Linda gar nicht auf den Gedanken kam, Widerstand zu leisten. Die Arme, die sie hielten, waren stark. Zebra schrie, es klang wie ein langgezogenes Heulen. Draußen in der Kirche stand Erik zusammen mit Torgeir Langaas und wartete. In der ersten Bank saßen zwei Frauen und ein weiterer Mann. Auch Anna war da, sie saß ein wenig weiter hinten. Linda versuchte, ihren Blick aufzufangen, doch Annas Gesicht glich einer erstarrten Maske. Oder trug sie wirklich eine Maske vorm Gesicht? Linda konnte es nicht erkennen. Die vorn Sitzenden hielten etwas in den Händen, das aussah wie weiße Masken.
Linda war vor Schreck wie gelähmt, als sie das Tau in Erik Westins Hand sah. Er wird Zebra töten, dachte sie verzweifelt. Er wird sie töten, und danach wird er mich töten, weil ich Augenzeugin bin und zuviel weiß. Zebra kämpfte wie ein Tier, um loszukommen.
In diesem Moment war es, als stürzten die Wände ein. Die Kirchentür wurde aufgestoßen, vier der bunten Fenster, zwei auf jeder Seite des Kirchenschiffs, zersplitterten. Linda hörte eine Stimme, die in ein Megaphon rief, und es war ihr Vater, kein anderer, er brüllte, als mißtraue er der Fähigkeit des Megaphons, seine Stimme zu verstärken. In der Kirche wurde es totenstill.
Erik Westin fuhr zusammen. Er riß Anna zu sich hin und benutzte sie als Schutzschild. Sie versuchte, sich loszureißen. Er schrie sie an, sie solle sich beruhigen, doch sie hörte nicht. Er zog sie mit zur Kirchentür. Wieder versuchte sie, sich zu befreien. Ein Schuß ging los. Anna zuckte zusammen und sank zu Boden. Erik Westin hielt die Waffe in der Hand. Ungläubig starrte er auf seine Tochter. Dann stürmte er aus der Kirche. Keiner wagte ihn aufzuhalten.
Lindas Vater war zusammen mit einer großen Anzahl bewaffneter Polizisten – die meisten kannte Linda nicht durch die seitlichen Türen in die Kirche gestürmt. Jetzt begann Torgeir Langaas zu schießen. Linda zog Zebra mit sich zwischen zwei Bankreihen und legte sich flach auf den Boden. Der Schußwechsel ging weiter. Was geschah, konnte Linda nicht sehen. Dann wurde es still. Sie hörte Martinssons Stimme, er rief, ein Mann sei durch die Tür entkommen. Das muß Torgeir Langaas sein, dachte sie.
Sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter und zuckte zusammen. Vielleicht schrie sie auch auf.
Es war ihr Vater. »Ihr müßt raus hier«, sagte er.
»Was ist mit Anna?«
Er antwortete nicht. Linda verstand, daß sie tot war. Sie liefen geduckt aus der Tür. In einiger Entfernung sahen sie den dunkelblauen Wagen verschwinden, verfolgt von zwei Polizeiautos. Linda und Zebra setzten sich jenseits der Friedhofsmauer auf die Erde.
»Jetzt ist es vorbei«, sagte Linda.
»Nichts ist vorbei«,
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