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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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jetzt nicht weg, nicht jetzt, da die Stimme von Gott sprach und all dem, was in sechsundzwanzig Stunden passieren sollte. Was war das für eine Botschaft hinter den Worten? Er sprach von einer großen Gnade, die die Märtyrer erwartete. Welche Märtyrer? Was war eigentlich ein Märtyrer? Es waren zu viele Fragen, und sie hatte einen zu schwachen Verstand, dachte sie. Was ging hier eigentlich vor sich? Und warum war seine Stimme so mild?
    Wie lange hörte sie zu, bevor sie begriff, worum es sich drehte? Vielleicht verstrich eine halbe Stunde, vielleicht waren es nur wenige Minuten. Die entsetzliche Wahrheit ging ihr langsam auf. Da war ihr schon der Schweiß ausgebrochen, obwohl es an der Hauswand kalt war. Hier in einem Haus in Sandhammaren wurde ein grauenhafter Angriff vorbereitet, nein, nicht einer, sondern dreizehn Angriffe, und ein Teil derer, die die Katastrophe auslösen sollten, war bereits unterwegs.
    Sie hörte Worte, die sich wiederholten:
Plazierung an Altar und Turm. Der Sprengstoff
wurde ebenfalls erwähnt,
die Fundamente und der Turm und der Sprengstoff,
es wiederholte sich mehrfach. Linda fiel plötzlich die gereizte Reaktion ihres Vaters ein, als jemand kam und ihn über den Diebstahl enormer Mengen von Dynamit informieren wollte. Konnte es mit dem zusammenhängen, was sie gerade durch das Fenster hörte? Jetzt begann der Mann da drinnen davon zu sprechen, wie wichtig es war, die bedeutenden Symbole der falschen Propheten anzugreifen. Aus diesem Grund hatten sie die dreizehn Dome als Ziele gewählt.
    Linda schwitzte und fror zugleich, ihre Beine waren steif, die Knie taten weh, und sie sah ein, daß sie keine Sekunde länger hierbleiben durfte. Was sie gehört hatte, und was sie jetzt für wahr halten mußte, war so erschreckend, daß es ihr nicht richtig in den Kopf wollte. So etwas passiert hier nicht, dachte sie. Es passiert irgendwo weit weg, unter Menschen mit einer anderen Hautfarbe, einem anderen Glauben.
    Sie streckte vorsichtig den Rücken. Es war still geworden hinter dem Fenster. Sie wandte sich zum Gehen, als jemand anders zu sprechen begann. Sie erstarrte. Der Mann, der jetzt sprach, sagte,
alles ist klar,
nichts weiter,
alles ist klar.
Aber es war kein reines Schwedisch, es war, als habe sie die Stimme in sich und von dem Tonband gehört, das aus der Notrufzentrale verschwunden war. Sie erschauerte, wartete, daß Torgeir Langaas noch etwas sagte, aber es kam nichts mehr. Sie tastete sich zum Zaun und kletterte vorsichtig hinüber. Die Taschenlampe wagte sie nicht anzumachen. Sie stieß gegen Bäume und stolperte über Steine.
    Allmählich ging ihr auf, daß sie sich verlaufen hatte. Sie fand den Pfad nicht mehr. Sie war zwischen ein paar Dünen herausgekommen. Wohin sie sich auch wendete, sie konnte kein anderes Licht entdecken als die Lichter eines Schiffs weit draußen auf dem Meer. Sie nahm die Mütze ab und stopfte sie in die Tasche, als ob ihr bloßer Kopf ihr helfen könnte, den richtigen Weg zu finden. Mit Hilfe der Windrichtung und ihrer Position zum Meer versuchte sie zu bestimmen, wo sie sich befand. Sie ging los, zog die Mütze aus der Tasche und setzte sie wieder auf.
    Jede Minute war jetzt entscheidend. Sie konnte nicht länger zwischen den Dünen umherirren. Sie mußte anrufen. Aber sie fand ihr Handy nicht. Sie durchsuchte alle Taschen. Die Mütze, dachte sie, es muß herausgefallen sein, als ich die Mütze aus der Tasche zog. Es ist in den Sand gefallen, und ich habe nichts gehört. Sie knipste die Taschenlampe an und kroch in ihrer eigenen Spur zurück. Aber sie fand kein Handy. Ich tauge zu nichts, dachte sie rasend. Ich krieche hier herum und weiß nicht einmal, wo ich bin. Sie zwang sich zur Ruhe. Wieder versuchte sie, die Richtung zu bestimmen. In regelmäßigen Abständen richtete sie sich auf und ließ die Taschenlampe hastig durchs Dunkel zucken.
    Schließlich fand sie den Pfad, auf dem sie gekommen war. Zur Linken lag das Haus mit den erleuchteten Fenstern. Sie entfernte sich davon, so weit sie konnte, und lief zu dem dunkelblauen Wagen. Es war ein Augenblick, der ihr wie eine große Befreiung vorkam. Sie sah auf die Uhr: Viertel nach elf. Die Zeit war gerast.
    Der Arm kam aus dem Dunkeln, von hinten, und hielt sie in einem festen Griff. Sie konnte sich nicht bewegen, die Kraft, die sie daran hinderte, war zu groß. Sie spürte den Atem an ihrer Wange. Der Arm drehte sie einmal herum. Eine Taschenlampe beleuchtete ihr Gesicht. Ohne daß er etwas sagte, wußte

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