Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
Vom Netzwerk:
folgte dem sandigen Pfad. Sie wunderte sich darüber, daß sie keine Angst hatte, obwohl sie gegen das ständige Mantra aus ihrer Ausbildungszeit verstieß: Geh nicht allein, arbeite nicht allein. Sie blieb stehen und zögerte. Vielleicht sollte sie umkehren. Ich bin genau wie Papa, dachte sie und spürte einen nagenden Verdacht, daß das, was sie gerade tat, letzten Endes ein Versuch war, ihm zu zeigen, daß sie zu etwas taugte.
    Plötzlich nahm sie einen Lichtschein zwischen den Bäumen und den Dünen wahr. Sie horchte. Immer noch nur der Wind und das Meer. Sie ging ein paar Schritte auf das Licht zu. Es waren Fenster, einige erleuchtet. Ein Haus lag da, einsam, ohne Nachbarn. Sie knipste die Taschenlampe wieder an, deckte sie mit der Hand ab und näherte sich vorsichtig. Dort war ein Zaun mit einem Tor. Als sie sich dem Haus so weit genähert hatte, daß das Licht aus den Fenstern den Boden vor ihr erleuchtete, löschte sie ihre Taschenlampe wieder. Der Garten war groß. Das Meer mußte nah sein, obwohl sie es nicht sehen konnte. Sie fragte sich, wer wohl ein so großes Haus am Strand besaß, und was Anna hier tat, wenn sie wirklich hierher gekommen war. Ihr Handy summte. Sie zuckte zusammen und verlor die Taschenlampe. Dann meldete sie sich schnell. Es war Hans Rosqvist, einer ihrer Kurskameraden, der jetzt in Eskilstuna arbeitete. Sie hatten sich seit dem Abschlußball nicht gesprochen. »Rufe ich ungelegen an?« fragte er.
    Linda konnte im Hintergrund Musik und das Klirren von Gläsern und Flaschen hören. »Ein bißchen«, flüsterte sie. »Ruf mich morgen wieder an. Ich arbeite.«
    »Aber einen Moment kannst du doch wohl reden?«
    »Nein. Wir reden morgen.«
    Sie beendete das Gespräch und behielt das Handy in der Hand und den Finger auf dem Ausknopf, falls er noch einmal anrief. Nachdem sie zwei Minuten gewartet hatte, ohne daß etwas geschah, steckte sie das Handy wieder ein. Vorsichtig kletterte sie über den Zaun. Vor dem Haus standen ein paar Autos. Auf dem Rasen waren ein paar Zelte aufgeschlagen.
    Nur ein paar Meter vor ihr wurde ein Fenster geöffnet. Sie fuhr zusammen und duckte sich. Sie sah einen Schatten hinter einer Gardine und hörte Stimmen. Sie wartete. Dann schlich sie sich zum Fenster. Die Stimmen waren verstummt. Das Gefühl, daß die Dunkelheit Augen hatte, wurde stärker. Ich muß weg von hier, dachte sie mit pochendem Herzen. Ich sollte hier nicht sein, auf jeden Fall nicht allein. Eine Tür wurde geöffnet, sie konnte nicht sehen, wo, nur einen Lichtstrahl, der in die Dunkelheit fiel. Linda hielt den Atem an. Jetzt roch sie Zigarettenrauch im Wind. Jemand steht an einer offenen Tür und raucht, dachte sie. Gleichzeitig kehrten die Stimmen in dem angelehnten Fenster über ihr zurück.
    Der Lichtstrahl verschwand, die Tür, die sie nicht sah, wurde geschlossen. Es dauerte einige Minuten, bis sie sicher war, daß nur eine Person sprach, ein Mann. Seine Stimmlage wechselte, so daß sie zuerst geglaubt hatte, es seien mehrere Personen. Er sprach in kurzen Sätzen, setzte einen Punkt und redete weiter. Sie strengte sich an, um zu hören, welche Sprache er sprach. Es war Englisch.
    Zunächst verstand sie nicht, was er sagte. Es war wie eine zusammenhanglose Wortkaskade ohne begreifbaren Sinn. Er zählte Namen auf, von Menschen, von Städten, Luleä, Västeräs, Karlstad. Es handelte sich um eine Art von Instruktion, verstand sie, etwas sollte dort passieren, Uhrzeiten und ein Datum wurden wiederholt. Linda rechnete im Kopf nach. Was auch immer es war, das dann passieren sollte, es war bestimmt, daß es in sechsundzwanzig Stunden geschah. Die Stimme des Sprechenden war melodisch, schleppend, konnte zuweilen schneidend werden, fast schrill, um dann wieder zu einer milderen Tonlage zurückzukehren.
    Linda versuchte, sich den Mann vorzustellen. Die Versuchung war groß, sich auf die Zehenspitzen zu stellen, um ins Zimmer zu schauen, ohne entdeckt zu werden. Doch sie verharrte in ihrer unbequemen Stellung an der Hauswand. Plötzlich begann die Stimme da drinnen von Gott zu sprechen. Linda spürte, wie ihr Magen sich verkrampfte. Was sie da hörte, war genau das, wovon ihr Vater gesprochen hatte, daß alle bisherigen Ereignisse eine religiöse Dimension hatten.
    Linda brauchte nicht darüber nachzudenken, ob sie eine Alternative hatte. Sie mußte fort und die Polizei alarmieren, Vielleicht hatte man sich im Präsidium auch schon zu fragen begonnen, wo sie steckte. Andererseits konnte sie gerade

Weitere Kostenlose Bücher