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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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sie, daß der Mann, der sie ansah und der so schwer atmete, Torgeir Langaas hieß.
    Die Morgendämmerung kam als ein sich langsam ausbreitender Grauton. Die Binde vor Lindas Augen ließ Licht durch. Sie verstand, daß die lange Nacht allmählich ein Ende nahm. Doch was würde dann geschehen? Um sie her war es still. Komischerweise hatte ihr Magen mitgemacht. Ein idiotischer Gedanke, aber er war wie ein kleiner Wachposten aus ihrem Innern hervorgesprungen, als Torgeir Langaas seinen kräftigen Arm um sie gelegt hatte. Der Wachposten stand da und schrie:
Bevor du mich totschlägst, bevor ich vergehe, muß ich auf die Toilette. Und wenn es hier im Wald keine gibt, dann laß mich nur für eine Minute los. Ich hocke mich in den Sand, ich habe immer Klopapier bei mir, und dann scharre ich Sand über die Kacke wie eine Katze.
    Aber sie hatte natürlich nichts gesagt. Sie hatte Torgeir Langaas' Atem gespürt, die Taschenlampe hatte sie geblendet. Dann hatte er sie zur Seite geschubst und ihr die Binde über die Augen gelegt und fest zugezogen. Als er sie in den Wagen stieß, hatte sie sich den Kopf gestoßen. Ihre Angst war so groß, daß sie nur mit dem Schrecken zu vergleichen war, den sie gespürt hatte, als sie auf dem Brückengeländer schwankte und zu der überraschenden Einsicht kam, daß sie nicht mehr sterben wollte. Es war still gewesen um sie her, nur der Wind und das Tosen des Meeres.
    War Torgeir Langaas noch im Wagen? Sie wußte es nicht. Auch vermochte sie nicht zu sagen, wieviel Zeit vergangen war, als die Vordertüren geöffnet wurden. Aber sie spürte an den Schwankungen des Wagens, daß zwei Personen sich auf die vorderen Sitze setzten. Der Wagen fuhr mit einem Ruck los, der Fahrer war nachlässig und nervös, oder er hatte es eilig.
    Sie versuchte, nachzuvollziehen, wohin sie fuhren. Sie kamen auf die asphaltierte Straße und bogen nach links ab, Richtung Ystad. Sie meinte auch zu hören, daß sie durch Ystad fuhren. Aber irgendwo auf dem Weg nach Malmö verlor sie die Kontrolle über die innere Karte, die sie zu erstellen versuchte. Der Wagen bog mehrmals ab, wechselte die Fahrtrichtung, der Asphalt ging in Schotter über und wieder in Asphalt. Der Wagen hielt an, aber keine Tür wurde geöffnet. Immer noch herrschte Stille. Wie lange sie dort saß, konnte sie nicht sagen. Aber es war gegen Ende dieser Wartezeit, als sie wahrnahm, wie das Morgenlicht grau durch die Augenbinde zu sickern begann.
    Plötzlich wurde die Stille dadurch unterbrochen, daß die Türen aufgerissen wurden. Jemand zog sie aus dem Wagen und führte sie einen Weg entlang, der zunächst asphaltiert war und dann in einen Sandpfad überging. Sie stieg eine steinerne Treppe mit vier Stufen hinauf. Sie merkte, daß die Kanten uneben waren, und sah vor ihrem inneren Auge eine ausgetretene Treppe. Dann war sie von Kälte umgeben, einer hallenden Kälte. Ihr war sofort klar, daß sie sich in einer Kirche befand. Die Angst, die sich im Verlauf des langen nächtlichen Wartens gemildert hatte, brach mit voller Kraft wieder durch. Vor sich sah sie, was sie nicht gesehen, wovon sie nur gehört hatte, Harriet Bolson, vor einem Altar mit einem Tau erdrosselt.
    Die Schritte auf dem Steinfußboden hallten, eine Tür wurde geöffnet, und sie stolperte über eine Schwelle. Dann wurde die Augenbinde abgenommen. Sie blinzelte gegen das graue Licht und sah den Rücken von Torgeir Langaas, als er den Raum verließ und die Tür hinter sich abschloß. Eine Lampe brannte, sie war in einer Sakristei mit Ölporträts strenger Geistlicher aus vergangenen Zeiten. Vor den Fenstern waren die Läden geschlossen. Linda sah sich nach einer Toilettentür um. Es gab keine. Noch hielten Magen und Darm Ruhe, aber ihre Blase war so voll, daß es schmerzte. Auf einem Tisch standen ein paar Trinkgefäße. Sie dachte, daß Gott ihr sicher verzeihen würde, und benutzte eines als Topf. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Viertel vor sieben, Samstag, der 8. September. Über der Kirche war das Geräusch eines Flugzeugs zu hören, das zur Landung irgendwo in der Nähe ansetzte.
    Sie verfluchte den Verlust ihres Handys. Hier in der Sakristei gab es kein Telefon. Sie suchte in Schränken und Schubladen, aber ohne Ergebnis. Dann begann sie die Fenster zu bearbeiten. Sie ließen sich öffnen, aber die Fensterläden schlossen dicht und waren verriegelt. Sie durchsuchte die Sakristei zum zweitenmal nach einem Werkzeug, aber vergebens.
    Die Tür wurde geöffnet, und ein Mann trat ein. Linda

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