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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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flüsterte Zebra. »Das wird mich für den Rest meines Lebens verfolgen. Ich werde immer etwas spüren, was sich um meinen Hals zusammenzieht.«
    Plötzlich knallte es wieder, ein Schuß, danach noch zwei. Linda und Zebra duckten sich tiefer hinter die Mauer. Stimmen, Kommandos ertönten, Autos starteten mit quietschenden Reifen und heulenden Sirenen. Dann Stille.
    Linda sagte Zebra, sie solle sitzen bleiben. Vorsichtig richtete sie sich auf und lugte über die Mauer. Um die Kirche herum waren zahlreiche Polizisten. Aber alle standen still. Es kam Linda vor, als betrachtete sie ein Gemälde. Sie erblickte ihren Vater und ging zu ihm.
    Er war bleich und packte sie hart am Arm.
    »Sie sind beide entkommen«, sagte er. »Westin und Langaas. Wir müssen sie fassen.«
    Er wurde unterbrochen, als jemand ihm ein Mobiltelefon reichte. Er lauschte und reichte es wortlos zurück. »Ein mit Dynamit beladener Wagen ist gerade in den Dom von Lund gerast. Sie haben die Pfosten mit den Eisenketten durchbrochen und sind in den linken Turm gekracht. Es herrscht totales Chaos. Niemand weiß, wie viele Tote es gegeben hat. Aber es hat den Anschein, als sei es gelungen, die Angriffe auf die anderen Dome abzuwenden. Bisher sind zwanzig Personen festgenommen worden.«
    »Warum haben sie das getan?« fragte Linda.
    Er dachte lange nach, bevor er antwortete. »Weil sie an Gott glaubten und ihn liebten«, antwortete er. »Aber ich kann mir nicht denken, daß diese Liebe gegenseitig war.«
    Sie blieben schweigend stehen.
    »War es schwer, uns zu finden?« fragte Linda. »Es gibt ja viele Kirchen in Schonen.«
    »Eigentlich nicht«, gab er zurück. »Lundwall im Tower konnte fast genau bestimmen, wo du dich befandest. Wir hatten zwei Kirchen zur Auswahl. Wir haben durch ein Fenster hereingesehen.«
    Wieder Schweigen. Linda wußte, daß sie ein und denselben Gedanken dachten. Was wäre geschehen, wenn sie sie nicht hätte herlotsen können?
    »Wessen Handy war das?« fragte er.
    »Annas. Sie hat es bereut.«
    Sie gingen zu Zebra. Ein schwarzer Wagen fuhr vor, Anna wurde fortgebracht.
    »Ich glaube nicht, daß er sie absichtlich erschossen hat«, sagte Linda. »Ich glaube, die Waffe ist versehentlich losgegangen.«
    »Wir werden ihn fassen«, sagte ihr Vater. »Dann erfahren wir es.«
    Zebra war aufgestanden. Sie fror so, daß es sie schüttelte.
    »Ich fahre mit ihr«, sagte Linda. »Ich weiß, daß ich sehr vieles falsch gemacht habe.«
    »Es wird ruhiger, wenn ich dich in Uniform habe und weiß, daß du sicher in einem Streifenwagen sitzt, der durch die Straßen von Ystad kurvt«, sagte ihr Vater.
    »Mein Handy liegt draußen bei Sandhammaren im Sand.«
    »Wir schicken jemand hin, der es anwählt. Vielleicht fängt der Sand an zu sprechen.«
    Svartman stand neben seinem Wagen. Er öffnete die hintere Tür und legte eine Wolldecke um Zebra. Sie kroch hinein und versteckte sich in einer Ecke.
    »Ich bleibe bei ihr«, sagte Linda.
    »Wie geht es dir?«
    »Ich weiß nicht. Das einzige, was ich sicher weiß, ist, daß ich Montag anfange zu arbeiten.«
    »Warte eine Woche«, sagte ihr Vater. »Ganz so eilig ist es wohl nicht.«
    Linda stieg ein, und sie fuhren davon. Ein Flugzeug im Landeanflug dröhnte dicht über ihre Köpfe hinweg. Linda schaute über die Landschaft. Es war, als würde ihr Blick in den braungrauen Lehm gesogen, und da war der Schlaf, den sie jetzt nötiger hatte als alles andere. Dann würde sie ein letztes Mal in ihre Warteposition zurückkehren, bevor sie zu arbeiten begann. Doch diesmal würde die Wartezeit kurz sein. Bald konnte sie ihre unsichtbare Uniform abstreifen. Sie überlegte, ob sie Svartman fragen sollte, wie er die Chancen einschätzte, Erik Westin und Torgeir Langaas zu fassen. Aber sie sagte nichts. Im Moment wollte sie nichts wissen.
    Später, jetzt nicht. Frost, Herbst und Winter; dann würde sie nachdenken. Sie lehnte den Kopf an Zebras Schulter und schloß die Augen. Plötzlich sah sie Erik Westins Gesicht vor sich. Im letzten Augenblick, als Anna langsam zu Boden sank. Jetzt erkannte sie, daß es Verzweiflung war, die sie in seinem Gesicht gesehen hatte, eine unendliche Einsamkeit. Ein Mann, der alles verloren hatte.
    Sie schaute wieder hinaus auf die Landschaft. Erik Westins Gesicht erlosch langsam, verlor sich im grauen Lehm.
    Als der Wagen in der Mariagata hielt, war Zebra eingeschlafen.
    Linda weckte sie behutsam. »Wir sind jetzt da«, sagte sie. »Wir sind da, und alles ist vorbei.«
    Montag, der 10.

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