Vor dem Frost
zurechtkommen.«
Eine Weile saßen sie noch schweigend da. Ohne ein Wort ging er zu Bett. Auch in dieser Nacht schlief Linda nur wenig. Sie dachte an all die Menschen, die bereit gewesen waren, sich selbst und die Kirchen, die sie haßten, in de Luft zu sprengen. Nach dem, was ihr Vater und Stefan Lindman erzählt hatten, nach dem, was sie in den Zeitungen gelesen hatte, waren diese Menschen alles andere als Monster. Sie traten demütig auf. Stets betonten sie ihren guten Vorsatz, ein für allemal dem wahren Gottesreich auf Erden den Weg zu bereiten.
Einen Tag konnte sie noch warten. Aber mehr nicht. Also ging sie am Vormittag des 11. September, einem windigen und kalten Tag, hinauf zum Polizeipräsidium, nach einer Nacht, die Spuren des ersten Frostes hinterlassen hatte. Sie probierte ihre Uniform an und ließ sich alle anderen Ausrüstungsgegenstände aushändigen. Anschließend sprach sie eine Stunde mit Martinsson und nahm ihren ersten Dienstplan in Empfang. Den Rest des Tages bekam sie frei. Aber sie wollte nicht allein zu Hause in der Mariagata sitzen, so blieb sie im Präsidium.
Gegen drei Uhr am Nachmittag saß sie im Eßraum, trank Kaffee und unterhielt sich mit Nyberg, der sich unaufgefordert zu ihr gesetzt hatte und sich von seiner freundlichsten Seite zeigte. Martinsson kam herein, kurz danach ihr Vater. Martinsson schaltete den Fernseher an. »In den USA ist etwas passiert«, sagte er.
»Was ist passiert?«
»Ich weiß nicht«, sagte Martinsson. »Aber du wirst es ja gleich sehen.«
Das Bild der Uhr. Eine Nachrichtensondersendung. Immer mehr Kollegen kamen herein. Als die Sendung anfing, war der Raum fast voll.
Epilog
DAS MÄDCHEN AUF DEM DACH
Der Notruf ging um kurz nach sieben am Freitag abend im Polizeipräsidium ein. Es war der 23. November 2001. Linda, die an diesem Abend mit einem Kollegen namens Ekman Streife fuhr, nahm den Anruf entgegen. Sie hatten gerade in Svarte einen Familienstreit geschlichtet und waren auf dem Weg zurück nach Ystad. Ein junges Mädchen war auf das Dach eines Mietshauses bei der westlichen Einfahrt nach Ystad geklettert und drohte damit, zu springen. Außerdem war es mit einem geladenen Schrotgewehr bewaffnet. Die Einsatzleitung beorderte so schnell wie möglich weitere Wagen an den Platz. Ekman schaltete das Blaulicht ein und erhöhte das Tempo.
Als sie am Ort des Geschehens eintrafen, hatten sich schon zahlreiche Schaulustige versammelt. Scheinwerfer waren auf das Mädchen gerichtet, das mit dem Gewehr in der Hand auf dem Dach saß. Ekman und Linda wurden von Sundin, der die Verantwortung für den Einsatz hatte und das Mädchen herunterholen sollte, eingewiesen. Ein Rettungswagen mit ausfahrbarer Leiter war schon vor Ort. Aber das Mädchen hatte gedroht zu springen, falls die Leiter ausgefahren würde.
Die Lage war unübersichtlich. Das Mädchen war sechzehn Jahre alt und hieß Maria Larsson. Sie war schon zweimal wegen psychischer Probleme stationär behandelt worden. Sie lebte mit ihrer Mutter zusammen, die Alkoholikerin war. Gerade an diesem Abend war irgend etwas völlig schiefgegangen. Maria hatte bei einem Nachbarn geklingelt und war, als die Tür geöffnet wurde, in die Wohnung gestürmt und hatte eine Schrotflinte mitsamt Munition, von deren Vorhandensein in der Wohnung sie wußte, an sich gebracht. Der Wohnungsinhaber mußte mit ernstlichen Problemen rechnen, da er die Waffe und die Patronen offenbar in unverantwortlich lässiger Weise aufbewahrt hatte.
Doch jetzt ging es um Maria. Sie hatte zunächst damit gedroht zu springen, dann damit, sich zu erschießen, dann wieder mit dem Sprung in die Tiefe, und schließlich damit, auf jeden zu schießen, der sich näherte. Die Mutter war zu betrunken, um irgendwie von Nutzen zu sein. Außerdem bestand die Gefahr, daß sie ihre Tochter anschreien und sie auffordern würde, doch Ernst zu machen.
Mehrere Polizisten hatten versucht, durch eine Luke zwanzig Meter von der Stelle am Fallrohr entfernt, wo das Mädchen saß, mit ihr zu sprechen. Im Moment versuchte ein alter Pastor, mit ihr zu reden, doch als sie die Waffe auf seinen Kopf richtete, tauchte er hastig ab. Es lief eine fieberhafte Suche nach einer nahen Freundin von Maria, die ihr ihren Vorsatz ausreden könnte. Keiner zweifelte daran, daß sie verzweifelt genug war, um ihre Drohung wahrzumachen.
Linda lieh sich ein Fernglas und richtete es auf das Mädchen. Schon als sie über Funk hergerufen wurden, hatte sie an damals gedacht, als sie selbst auf
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