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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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sicher fühlen, solange Erik Westin nicht gefaßt worden war. Eines Tages wird vielleicht der nächste Lastwagen voll Dynamit in einen Dom gelenkt, genau wie in Lund. Es würde lange Zeit dauern, den zerstörten Dom wieder aufzubauen.
    Nachdem sie Zebra nach Hause gebracht und sich vergewissert hatte, daß sie allein zurechtkam, hatte Linda einen Spaziergang gemacht und sich auf die Kaimauer am Hafencafe gesetzt. Es war kalt und windig, aber sie kauerte sich im Windschatten zusammen. Sie wußte nicht, ob das, was sie für Anna empfand, ein Gefühl des Verlusts war oder etwas anderes. Wir sind nie wieder richtige Freundinnen geworden, dachte sie. So weit kamen wir nicht. Unsere wirkliche Freundschaft gehört für immer unserer Kindheit an.
    Am Abend kam ihr Vater nach Hause und berichtete, daß sie Torgeir Langaas gefunden hatten. Er war frontal gegen einen Baum gerast. Alles deutete darauf hin, daß es Selbstmord war. Aber Erik Westin war noch spurlos verschwunden. Linda fragte sich, ob sie jemals erfahren würde, ob es Erik Westin gewesen war, den sie im Sonnenlicht vor Lestarps Kirche gesehen hatte. Und war er derjenige, der in ihr Auto eingebrochen war?
    Es gab noch eine Frage, die zu beantworten ihr inzwischen selbst gelungen war. Die Worte in Annas Tagebuch,
Meineide, Vatikan.
Es war so einfach, dachte Linda, mein Vati, mein Vati. Nichts sonst.
    Linda und ihr Vater saßen noch lange auf und redeten miteinander. Die Polizei hatte damit begonnen, Erik Westins Leben zu rekonstruieren, und hatte eine Verbindung zu jenem Pastor Jim Jones und seiner Sekte aufgedeckt, die einst im Dschungel von Guyana den Tod gesucht hatten. Erik Westin war ein komplizierter Mensch, den man wohl nie bis ins letzte verstehen würde. Aber es war unendlich wichtig, einzusehen, daß er alles andere war als ein Wahnsinniger. Sein Selbstbild, das nicht zuletzt auf den ›heiligen Fotos‹ erkennbar wurde, die seine Jünger bei sich trugen, war das eines demütigen Menschen. Es lag eine Logik in seiner Art zu denken, auch wenn sie verzerrt und krankhaft war. Er war kein Wahnsinniger, sondern ein Fanatiker, bereit, das zu tun, was erforderlich war, um das, woran er glaubte, voranzubringen. Er war bereit, Menschen zu opfern, wenn es dem großen Ziel diente. Er ließ Menschen, die seinen Plan zunichte zu machen drohten, ebenso töten wie diejenigen, die in seinen Augen Verbrechen begangen hatten, die mit dem Tod gesühnt werden mußten. Ständig suchte er die Antworten in der Bibel. Nichts durfte geschehen, wenn er keine Hinweise darauf in der Bibel fand.
    Erik Westin war ein verzweifelter Mensch, der nur Böses und Verfall um sich herum wahrnahm. So gesehen konnte man ihn vielleicht verstehen, ohne freilich das, was er tat, zu entschuldigen. Damit es sich nicht wiederholte, damit man in Zukunft Menschen leichter erkennen konnte, die bereit waren, sich selbst im Zuge von etwas, was sie als einen christlichen Auftrag verstanden, in die Luft zu sprengen, durfte man nicht den Fehler machen, Erik Westin als einen Verrückten abzutun. Denn das war er nicht, meinte Lindas Vater.
    Mehr gab es eigentlich nicht zu sagen. Alle, die die gutgeplanten Sprengungen hatten durchführen sollen, warteten jetzt auf ihre Verurteilung und anschließende Ausweisung, die Polizei in der ganzen Welt suchte nach Erik Westin, und der Herbst sollte mit Frostnächten und kalten Nordostwinden ins Land kommen.
    Als sie gerade ins Bett gehen wollten, klingelte das Telefon. Er lauschte schweigend, stellte ein paar kurze Fragen. Als das Gespräch beendet war, wollte Linda nicht fragen, was passiert sei. Sie sah ein Glänzen wie von Tränen in seinen Augen, als er ihr sagte, daß Sten Widen gerade gestorben sei. Eine seiner Frauen hatte angerufen, vielleicht die letzte, mit der er zusammengelebt hatte. Sie hatte versprochen, Kurt Wallander anzurufen und ihm zu sagen, es sei alles vorüber und es sei ›gutgegangen‹.
    »Was meint sie damit?«
    »Wir redeten so, als wir jung waren, Sten und ich. Über den Tod als etwas, dem man sich stellen mußte wie einem Gegner in einem Duell. Auch wenn der Ausgang feststand, konnte man den Tod ermüden, so daß er nur noch die Kraft hatte, einen letzten Stoß auszuführen. Wir beschlossen, daß der Tod für uns beide so sein sollte, etwas, dem wir uns stellen würden, so daß es ›gutging‹.«
    Sie bemerkte seine Wehmut. »Möchtest du darüber reden?«
    »Nein«, antwortete er. »Mit der Trauer um Sten Widen muß ich allein

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