Vor dem Frost
September, war ein kalter und windiger Tag in Schonen. Linda hatte schlecht geschlafen, erst im Morgengrauen war sie zur Ruhe gekommen. Sie wurde davon wach, daß ihr Vater ins Zimmer kam und sich auf die Bettkante setzte. So war es, als ich Kind war, dachte sie. Mein Vater saß auf meiner Bettkante, meine Mutter fast nie.
Er fragte, wie sie geschlafen habe, und sie antwortete wahrheitsgemäß: schlecht, und als es ihr endlich gelungen war einzuschlafen, hatten Alpträume das Dunkel erfüllt.
Am Abend zuvor hatte Lisa Holgersson angerufen und gesagt, sie könne ihren Arbeitsantritt um einige Tage verschieben. Eine Woche, hatte Lisa Holgersson gemeint. Doch Linda hatte Einspruch erhoben. Jetzt wollte sie es nicht mehr aufschieben, trotz allem, was geschehen war. Sie einigten sich darauf, daß Linda einen zusätzlichen freien Tag nehmen und am Dienstag morgen ins Präsidium kommen würde.
Kurt Wallander erhob sich von der Bettkante. »Ich gehe jetzt«, sagte er. »Was machst du heute?«
»Ich will mich mit Zebra treffen. Sie braucht jemanden, mit dem sie reden kann. Und ich auch.«
Linda verbrachte den Tag zusammen mit Zebra. Unaufhörlich klingelte das Telefon. Geschäftige Journalisten wollten Fragen stellen. Schließlich flüchteten sie in die Mariagata. Der Junge war bei Aina Rosberg. Immer wieder gingen sie die Ereignisse durch. Am meisten beschäftigte sie Annas Schicksal. Würden sie je verstehen? Konnte überhaupt jemand verstehen?
»Sie hat sich ihr ganzes Leben nach ihrem Vater gesehnt«, sagte Linda. »Als er schließlich kam, weigerte sie sich zu glauben, daß er unrecht haben könnte, was er auch sagte oder tat.«
Zebra saß an diesem Montag lange Zeit schweigend da. Linda wußte, was ihr durch den Kopf ging. Wie wenig gefehlt hatte, daß sie getötet worden wäre, und daß Anna die Schuld daran trug, nicht nur ihr Vater.
Am frühen Nachmittag rief Lindas Vater an und berichtete, Henrietta sei zusammengebrochen und liege im Krankenhaus. Linda dachte an Annas Seufzen, das Henrietta in eine ihrer Kompositionen eingefügt hatte. Das ist ihr geblieben, dachte sie. Das Seufzen ihrer toten Tochter auf einem Tonband.
»Es lag ein Brief auf ihrem Tisch«, fuhr Lindas Vater fort. »Darin versucht sie, ihr Verhalten zu erklären. Der Grund, weshalb sie über die Rückkehr Erik Westins geschwiegen hat, war reine Angst. Er hatte ihr damit gedroht, Anna und sie selbst zu töten, wenn sie nicht schwiege. Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß sie die Unwahrheit sagt. Aber trotz allem hätte sie versuchen müssen, einen Ausweg zu finden und jemandem zu erzählen, was sich anbahnte.«
»Hat sie etwas über meinen letzten Besuch geschrieben?« fragte Linda.
»Torgeir Langaas war dort draußen. Sie öffnete das Fenster, damit er hören sollte, daß sie nichts verriet.«
»Annas Vater schüchterte also Menschen mit Hilfe von Torgeir Langaas ein.«
»Wir dürfen nicht vergessen, daß er viel über Menschen wußte.«
»Habt ihr irgendwelche Spuren?«
»Wir sollten sie fassen, denn es läuft inzwischen eine weltweite Fahndung nach ihnen, und zwar mit höchster Priorität. Aber vielleicht finden sie neue Verstecke, neue Anhänger.«
»Wer will sich schon Menschen anschließen, die meinen, dieses ganze Töten sei zur Ehre Gottes?«
»Darüber kannst du mit Stefan Lindman reden. Du weißt, daß er schwer krank war? Er hat mir erzählt, daß er nach seiner Krankheit aufgehört habe, an Gott zu glauben, und zu der Ansicht gelangt sei, das, was mit dem Menschen geschehe, werde von anderen Kräften bestimmt. Vielleicht war es so? Daß sie Erik Westin folgten statt Gott?«
»Ihr müßt sie fassen.«
»Wir können nicht ausschließen, daß sie Selbstmord begangen haben. Doch solange wir keine Leichen gefunden haben, gehen wir davon aus, daß sie leben. Sie können weitere Verstecke angelegt haben wie das im Wald von Rannesholm. Niemand weiß, wie viele Verstecke Torgeir Langaas vorbereitet hat, und niemand wird die Frage beantworten können, wenn wir sie nicht finden.«
Als das Telefongespräch beendet war, sprachen Linda und Zebra darüber, daß Erik Westin vielleicht schon mit dem Aufbau einer neuen Sekte beschäftigt war. Es gab viele, die bereit waren, ihm zu folgen. Einer von ihnen war dieser Prediger, Ulrik Larsen, der Linda in Kopenhagen überfallen und bedroht hatte. Er wartete nur darauf, gerufen zu werden, um einen Auftrag auszuführen. Linda dachte an das, was ihr Vater gesagt hatte. Sie konnten sich nicht
Weitere Kostenlose Bücher