Vor dem Frost
selten an Anna gedacht. Aber die Begegnung mit Zebra hatte die Erinnerungen wachgerufen, und sie freute sich, als sie sah, daß Anna tatsächlich noch in Ystad wohnte, in einer der Straßen hinter der Mariagata, gleich bei der Ausfahrt in Richtung Österlen.
Am gleichen Abend rief Linda an, und sie verabredeten sich für einen der folgenden Tage. Danach trafen sie sich mehrmals in der Woche, manchmal alle drei, doch meistens nur Anna und Linda. Anna wohnte allein und lebte von Studiengeld, mit dem sie mühsam ihr Medizinstudium finanzierte.
Linda hatte den Eindruck, Anna sei womöglich noch scheuer geworden als damals in den Jahren ihres gemeinsamen Heranwachsens. Ihr Vater hatte sie und ihre Mutter verlassen, als sie fünf oder sechs Jahre alt war. Er hatte nie mehr etwas von sich hören lassen. Annas Mutter lebte draußen auf dem Land, nicht weit von Löderup, wo Lindas Großvater viele Jahre lang gelebt und seine ewig gleichen Bilder gemalt hatte. Anna schien froh darüber zu sein, daß Linda den Kontakt zu ihr gesucht hatte und fortan wieder in Ystad leben würde. Doch Linda spürte, daß sie mit der Freundin äußerst behutsam umgehen mußte. Sie hatte etwas Zerbrechliches, etwas Scheues. Linda durfte ihr nicht zu nahe kommen. Aber in dieser Gemeinschaft, mit Zebra, ihrem Sohn und Anna, ertrug Linda immerhin den sich dahinschleppenden Sommer, während sie darauf wartete, zum Polizeipräsidium hinaufzugehen, mit der dicken Frau Lundberg zu sprechen, die der Kleiderkammer vorstand, und ihre Uniform und die übrige Ausstattung in Empfang zu nehmen und zu quittieren.
Den Sommer über arbeitete ihr Vater fast ausschließlich, aber erfolglos, an der Aufklärung einer Serie schwerer Raubüberfälle auf Banken und Postämter in Ystad und Umgebung. Dann und wann hörte Linda ihn auch von einigen großen Dynamitdiebstählen sprechen, die offenbar in einer sorgfältig geplanten Aktion durchgeführt worden waren. Wenn er abends eingeschlafen war, ging Linda seine Notizen und die Ermittlungsmappen durch, die er häufig mit nach Hause brachte. Aber wenn sie versuchte, ihn danach zu fragen, woran er gerade arbeitete, antwortete er ausweichend. Noch war sie keine Polizistin. Sie mußte mit ihren Fragen bis zum September warten.
Der Sommer verging. Eines Tages im August kam ihr Vater am frühen Nachmittag nach Hause und sagte, ein Makler habe angerufen und berichtet, er hätte jetzt ein Haus gefunden und sei überzeugt, daß es Wallander gefallen würde. Es lag nicht weit von Mossby Strand an einem Hang, der zum Meer hin abfiel. Er fragte Linda, ob sie Lust habe, mitzufahren und das Haus anzusehen. Sie rief Zebra an, mit der sie verabredet war, und verschob ihr Treffen auf den nächsten Tag.
Dann setzten sie sich in Wallanders Peugeot und verließen die Stadt in westlicher Richtung. Das Meer an diesem Tag war grau und kündete vom Herbst, der vor der Tür stand.
Das Haus war leer und verbarrikadiert. Dachziegel waren weggeweht, eins der Fallrohre war halb abgerissen. Das Haus lag auf einem Hügel mit unbehinderter Sicht aufs Meer. Aber es strahlte etwas Unbarmherziges und Einsames aus, dachte Linda. Dies ist kein Haus, in dem mein Vater seine Ruhe finden kann. Hier wird er nur von seinen Dämonen gejagt werden. Aber was für Dämonen sind es eigentlich? Was quälte ihn am meisten? In Gedanken versuchte sie, seine dunkleren Seiten in eine Rangordnung zu bringen; als erstes kam seine Einsamkeit, dann das steigende Übergewicht und die Steifheit seiner Gelenke. Doch danach? Sie ließ den Gedanken an die Liste fallen und beobachtete heimlich ihren Vater, wie er auf dem Grundstück umherging und das Haus inspizierte. Der Wind zog langsam, beinah grüblerisch durch ein paar hohe Buchen. Tief unter ihnen lag das Meer. Linda kniff die Augen zusammen und sah ein Schiff am Horizont.
Kurt Wallander betrachtete seine Tochter. »Du ähnelst mir, wenn du die Augen zusammenkneifst.«
»Nur dann?«
Sie gingen weiter. Auf der Rückseite des Hauses lag ein vergammeltes Ledersofa. Eine Feldmaus schreckte zwischen den Federn auf und huschte davon. Der Vater blickte sich um und schüttelte den Kopf. »Warum will ich eigentlich aufs Land?«
»Willst du, daß ich dich das frage? Dann tu ich es. Warum willst du aufs Land?«
»Es war immer mein Traum, morgens aus dem Bett zu steigen und direkt hinaus ins Freie treten und pinkeln zu können.«
Sie sah ihn belustigt an. »Nur deshalb?«
»Was könnte ein besseres Motiv sein? Fahren
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