Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
Vom Netzwerk:
sollte, auch die Hunde nicht. Er kletterte über den Zaun und begann zu laufen. Vor ihm auf dem Boden lagen die ersten Toten. Die, die versucht hatten, zu entkommen. Sie waren in den Rücken geschossen worden.
    Dann blieb er stehen. Ein Mann lag vor ihm auf dem Boden, das Gesicht nach unten. Vorsichtig bückte er sich auf unsicheren Beinen und drehte den Körper um. Jim schaute ihm direkt in die Augen. Sein Blick hat aufgehört zu flackern, dachte er. Jim sieht mir wieder gerade in die Augen. Er zwinkert nicht einmal. Ein sinnloser Gedanke fuhr ihm durch den Kopf: Die Toten zwinkern nicht. Er spürte den Impuls, Jim zu schlagen, ihm ins Gesicht zu treten. Doch er tat es nicht. Er richtete sich auf, er war der einzige Lebende unter all den Toten, und er suchte weiter, bis er Maria und das Mädchen fand.
    Maria hatte versucht zu fliehen. Sie war in den Rücken getroffen worden und vornübergefallen, und sie hatte das Mädchen in den Armen gehalten. Er hockte sich nieder und weinte. Jetzt gibt es nichts mehr, dachte er. Jim hat unser Paradies in eine Hölle verwandelt.
    Er blieb bei Maria und dem Mädchen, bis ein Hubschrauber über der Kolonie zu kreisen begann. Da erhob er sich und ging davon. Er dachte an etwas, was Jim gesagt hatte, in der guten Zeit, kurz nach der Ankunft in Guyana. »Die Wahrheit über einen Menschen kann man ebenso mit der Nase erkennen wie mit den Augen oder dem Gehör. Der Teufel verbirgt sich im Menschen, und der Teufel riecht nach Schwefel. Wenn du den Schwefelgeruch spürst, sollst du das Kreuz hochhalten.«
    Was ihn erwartete, wußte er nicht. Er fürchtete das, was kommen würde. Er fragte sich, wie er die große Leere würde füllen können, die Gott und Jim Jones zurückgelassen hatten.

Teil 1
AALDUNKEL
    Kurz nach neun am Abend des 21. August 2001 kam Wind auf. Wellen kräuselten sich auf dem Marebosjö, der in einer Talsenke an der Südseite von Rommeleåsen lag. Der Mann, der in der Dunkelheit am Strand wartete, hielt eine Hand in die Luft, um zu prüfen, woher der Wind kam. Fast genau aus Süden, dachte er zufrieden. Also hatte er die richtige Stelle ausgesucht, um das Brot auszulegen und die Tiere anzulocken, die er bald opfern würde.
    Er setzte sich auf den Stein, auf dem er einen Pullover ausgebreitet hatte, um nicht kalt zu werden. Es war abnehmender Mond. Die Wolkendecke am Himmel ließ kein Licht durch. Aaldunkel, dachte er. So nannte es mein schwedischer Spielkamerad in meiner Kindheit. Im Augustdunkel beginnt der Aal zu wandern. Dann stößt er gegen die Leitnetze und wandert ins Innere der Reuse. Er ist gefangen.
    Er horchte ins Dunkel hinaus. Seine scharfen Ohren vernahmen das Geräusch eines Autos, das in einiger Entfernung vorbeifuhr. Sonst war alles still. Er holte seine Taschenlampe heraus und ließ den Strahl über den Strand und das Wasser gleiten. Sie kamen jetzt, er konnte sie sehen. Er machte zwei weiße Flecken gegen das dunkle Wasser aus, weiße Flecken, die zahlreicher und größer werden würden.
    Er knipste die Lampe aus und suchte in seinem Hirn, das er zu einem treuen und untertänigen Mitarbeiter gezähmt und getrimmt hatte, nach einer Information darüber, wie spät es war. Drei Minuten nach neun, dachte er. Dann hob er den Arm. Die Uhrzeiger leuchteten im Dunkeln. Drei Minuten nach neun. Er hatte recht gehabt. Natürlich hatte er recht gehabt. In einer halben Stunde würde alles klar sein, und er würde nicht länger warten müssen. Er hatte gelernt, daß nicht nur Menschen von dem Bedürfnis getrieben wurden, pünktlich zu sein. Er hatte drei Monate gebraucht, um das, was an ebendiesem Abend geschehen sollte, vorzubereiten. Langsam und methodisch hatte er die Tiere, die er opfern wollte, an seine Anwesenheit gewöhnt. Er hatte sich zu ihrem Freund gemacht.
    Das war seine wichtigste Fähigkeit im Leben. Er konnte mit allen Freund werden. Nicht nur mit Menschen, sondern auch mit Tieren. Er machte sich zum Freund, und niemand wußte, was er meinte und dachte. Er knipste die Taschenlampe wieder an. Die weißen Flecken waren mehr geworden, und sie waren gewachsen. Sie näherten sich dem Strand. Bald würde er nicht länger warten müssen. Er leuchtete mit der Lampe über den Strand. Dort lagen die beiden mit Benzin gefüllten Sprayflaschen und die Brotstücke, die er am Strand ausgestreut hatte. Er löschte die Lampe und wartete.
    Als die Zeit gekommen war, handelte er so ruhig und methodisch, wie er es geplant hatte. Die Schwäne waren ans Ufer gekommen.

Weitere Kostenlose Bücher