Vor dem Frost
Sie schnappten nach seinen Brotstücken und schienen nicht zu merken, daß ein Mensch in der Nähe war. Oder sie machten sich nichts daraus, weil sie sich daran gewöhnt hatten, daß er keine Gefahr darstellte. Er benutzte die Taschenlampe jetzt nicht mehr, sondern hatte eine Nachtsichtbrille aufgesetzt. Sechs Schwäne waren auf dem Strand, drei Paare. Zwei hatten sich hingelegt, während die anderen ihr Gefieder putzten oder weiter mit den Schnäbeln nach Brotstücken suchten.
Der Augenblick war da. Er stand auf, griff mit jeder Hand eine Sprayflasche und besprühte jeden einzelnen Vogel mit Benzin, und bevor sie fortflattern konnten, hatte er eine der Flaschen fallen gelassen und die andere angezündet. Das brennende Benzin setzte sofort die Flügel der Schwäne in Brand. Flatternden Feuerbällen gleich versuchten sie, ihrer Qual zu entkommen, indem sie auf den See hinausflogen. Er nahm das Bild und die Geräusche dessen, was er sah, in sich auf, die brennenden, schreienden Vögel, die über den See davonflatterten, bevor sie ins Wasser stürzten und mit zischenden und rauchenden Flügeln starben. Wie geborstene Trompeten, dachte er. So werde ich ihre letzten Schreie in Erinnerung behalten.
Es war sehr schnell gegangen. In weniger als einer Minute hatte er die Schwäne angezündet und sie davonflattern sehen, bis sie ins Wasser gestürzt waren und alles wieder dunkel war. Er war zufrieden. Alles war gutgegangen. Der Abend war so verlaufen, wie es beabsichtigt war, ein tastender Anfang.
Er warf die beiden Sprayflaschen in den See. Den Pullover, auf dem er gesessen hatte, steckte er in den Rucksack und leuchtete anschließend um sich herum den Strand ab, um sich zu vergewissern, daß er nichts vergessen hatte. Als er sicher war, keine Spuren hinterlassen zu haben, zog er ein Handy aus der Jackentasche. Er hatte es vor einigen Tagen in Kopenhagen gekauft. Es würde nicht zu ihm verfolgt werden können. Er tippte die Nummer ein und wartete.
Als er Antwort bekam, bat er darum, mit der Polizei verbunden zu werden. Das Gespräch war kurz. Dann schleuderte er das Handy in den See, warf sich den Rucksack über und verschwand in der Dunkelheit.
Der Wind hatte inzwischen auf West gedreht und wurde immer böiger.
Linda Caroline Wallander fragte sich an diesem Tag Ende August, ob es Ähnlichkeiten gab zwischen ihr und ihrem Vater, die sie noch nicht entdeckt hatte, obwohl sie jetzt bald dreißig Jahre alt war und eigentlich wissen müßte, wer sie war. Sie hatte ihn gefragt, manchmal sogar versucht, ihm eine Antwort abzupressen, doch er reagierte verständnislos und antwortete ausweichend, sie gliche wohl am meisten seinem Vater. Die »Ähnlichkeitsgespräche«, wie sie sie nannte, gingen manchmal in Meinungsverschiedenheiten über, die in heftigem Streit endeten. Sie flammten heiß auf, legten sich jedoch schnell wieder. Die meisten dieser Streitereien vergaß sie auch wieder, und sie nahm an, daß auch ihr Vater diese Gespräche, die aus dem Ruder gelaufen waren, nicht lange wiederkäute.
Aber von all den Streitgesprächen dieses Sommers konnte sie eins nicht vergessen. Es ging um eine Bagatelle. Dennoch hatte sie das Gefühl, daß sie hinter der eigentlichen Erinnerung Bruchstücke ihrer Kindheit und Jugend wiederentdeckte, die sie völlig verdrängt hatte. Am gleichen Tag, an dem sie von Stockholm nach Ystad gekommen war, Anfang Juli, hatten sie angefangen, sich über Erinnerungen zu streiten. Sie hatten einmal, als sie klein war, zusammen eine Reise nach Bornholm gemacht. Sie waren zu dritt gewesen, ihr Vater, ihre Mutter Mona und sie selbst, sechs oder vielleicht sieben Jahre alt. Der Anlaß des idiotischen Streits jetzt war die Frage gewesen, ob es damals windig war oder nicht. Sie hatten im lauen Wind auf dem engen Balkon zu Abend gegessen, als das Gespräch plötzlich auf die Reise nach Bornholm kam. Ihr Vater behauptete, Linda sei seekrank gewesen und habe seine Jacke vollgespuckt. Linda dagegen meinte, vollkommen klar ein spiegelglattes blaues Meer vor sich liegen zu sehen. Sie hatten nur diese eine Reise nach Bornholm gemacht, eine Verwechslung war also ausgeschlossen. Ihre Mutter war nicht gern übers Meer gefahren, und Lindas Vater erinnerte sich, wie verwundert er gewesen war, als sie der Bornholmfahrt zugestimmt hatte.
An jenem Abend, nachdem der eigentümliche Streit sich wie in nichts aufgelöst hatte, konnte Linda lange nicht einschlafen. In zwei Monaten würde sie als Polizeianwärterin im
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