Vor dem Frost
hergekommen? Ich hatte noch nie das Gefühl, daß du mich besonders magst.«
»Als ich kleiner war und mit Anna spielte, hatte ich wohl Angst vor dir.«
»Vor mir? Niemand hat Angst vor mir.«
Doch, dachte Linda schnell. Anna hatte auch Angst vor dir. Sie hatte nachts Alpträume deinetwegen.
»Ich bin hergekommen, weil ich Lust dazu hatte. Es war nicht geplant. Ich frage mich, wo Anna ist. Aber ich mache mir nicht solche Sorgen wie gestern. Du hast bestimmt recht damit, daß sie in Lund ist.«
Linda hielt inne, zögerte.
Henrietta bemerkte es sofort. »Was verschweigst du? Muß ich mir Sorgen machen wegen irgend etwas?«
»Anna war der Meinung, vor ein paar Tagen in Malmö ihren Vater auf der Straße gesehen zu haben. Ich sollte vielleicht nicht darüber reden. Sie sollte es selbst tun.«
»Ist das alles?«
»Reicht das nicht?«
Henrietta spielte geistesabwesend mit den Fingern ein paar Zentimeter über den Tasten.
»Anna glaubt ständig, ihren Vater auf der Straße gesehen zu haben. Seit ihrer Kindheit.«
Linda wurde sogleich hellhörig. Zu ihr hatte Anna nie gesagt, sie habe ihren Vater gesehen. Das hätte sie aber getan, wenn es häufiger vorgekommen wäre. In der Zeit, in der sie einander nahegestanden hatten, teilten sie alle wichtigen Erlebnisse. Anna war eine der wenigen, die wußten, daß Linda auf einem Brückengeländer über der Autobahn in Malmö balanciert war. Was Henrietta jetzt sagte, konnte nicht stimmen.
»Anna wird nie dieses glatte Seil loslassen. Das Seil, das ihre unmögliche Hoffnung darstellt, Erik könnte zurückkommen. Daß er überhaupt lebt.«
Linda wartete auf eine Fortsetzung, die jedoch nicht kam. »Warum ist er eigentlich weggegangen?«
Henriettas Antwort kam überraschend. »Er ging weg, weil er enttäuscht war.«
»Wovon?«
»Vom Leben. Als junger Mann hatte er schwindelerregende Vorstellungen. Mit diesen gewaltigen Träumen verführte er mich. Ich habe noch nie einen Mann getroffen, der die gleichen wunderbaren Lockrufe ausstieß wie Erik. Er wollte in unserer Welt und unserer Zeit einen Unterschied bewirken. Er war wie geschaffen für die großen Aufgaben, davon war er überzeugt. Wir begegneten uns, als er sechzehn war und ich fünfzehn. Es war früh, aber einen solchen Menschen hatte ich noch nie getroffen. Er sprühte förmlich von Träumen und Lebenskraft. Schon als wir uns begegneten, hatte er beschlossen, bis zum Alter von zwanzig Jahren nur herumzuprobieren. Wollte er die Kunst, den Sport, die Politik verändern? Er wußte es nicht. Das Leben und die Welt waren für ihn wie ein unentdecktes Höhlensystem, das er durchforschte. Ich kann mich nicht erinnern, daß er bis zum Alter von zwanzig Jahren jemals an sich selbst gezweifelt hätte. Dann wurde er plötzlich unruhig. Vorher hatte er alle Zeit der Welt gehabt. Er suchte weiter nach dem großen Sinn seines Lebens. Als ich anfing, Forderungen an ihn zu stellen, daß er dazu beitragen sollte, die Familie zu versorgen, besonders nachdem Anna geboren war, konnte er die Geduld verlieren und aus der Haut fahren. Das hatte er noch nie getan. Damals fing er an, Sandalen anzufertigen, um ein wenig Geld zu verdienen. Er war sehr geschickt. Ich glaube, er beschloß, die ›Sandalen des Leichtsinnsc, wie er sie nannte, aus Protest dagegen anzufertigen, daß er seine wertvolle Zeit allein aus dem verachtenswerten Grund opfern mußte, Geld zu verdienen. Vermutlich begann er damals, sein Verschwinden vorzubereiten. Vielleicht sollte ich lieber von Flucht sprechen. Er floh nicht meinetwegen oder Annas wegen, er floh vor sich selbst. Er glaubte, er könnte seiner Enttäuschung davonlaufen. Vielleicht konnte er das. Auf die Frage bekomme ich wohl nie eine Antwort. Auf einmal war er weg. Es kam völlig überraschend. Ich hatte nichts geahnt. Erst nachher erkannte ich, wie sorgfältig er alles vorbereitet hatte. Sein Verschwinden entsprang nicht einfach einem Impuls. Daß er dann mein Auto verkaufte, kann ich ihm verzeihen. Was ich nicht verstehe, ist, wie er Anna aufgeben konnte. Sie standen sich nahe. Er liebte sie. Ich war nie so wichtig für ihn.
Vielleicht in den ersten Jahren, als ich seine Träumereien ertrug. Aber nicht mehr, nachdem Anna geboren war. Ich kann noch immer nicht verstehen, wie er sie verlassen konnte. Wie kann die Enttäuschung eines Menschen über einen unmöglichen Traum so groß werden, daß er den wichtigsten Menschen in seinem Leben preisgibt? Das war sicher auch der Grund dafür, daß er starb,
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