Vor dem Frost
den Jahren in immer schärferem Tonfall. Die Vespa, die sie mit zweiundzwanzig Jahren gekauft hatte, sollte sie begleiten, solange sie lebte. Was nachher damit geschah, war ihr egal. Vielleicht würde sich eins ihrer vier Enkelkinder dafür interessieren. Aber sie hatte nicht die Absicht, ein Testament aufzusetzen, damit die alte Vespa in die richtigen Hände gelangte. Sie befestigte den Rucksack auf dem Gepäckträger, setzte den Helm auf und trat aufs Startpedal. Der Motor sprang sofort an.
So früh am Morgen war die Ortschaft still und verlassen. Bald wird es Herbst, dachte sie, als sie an den Eisenbahngleisen und danach an der Baumschule vorüberfuhr, die rechts an der Ausfahrt zur Landstraße zwischen Ystad und Malmö lag. Sie sah sich gründlich um, ehe sie die Autostraße überquerte, und fuhr dann nach Norden in Richtung Rommeleåsen. Ihr Ziel war das Waldgebiet zwischen dem Ledsjö und Schloß Rannesholm. Es war eines der größten geschützten Waldgebiete in diesem Teil Schonens. Außerdem war der Wald alt, er war nie gelichtet worden und war an manchen Stellen nahezu undurchdringlich. Der Besitzer von Schloß Rannesholm war ein Börsenmakler, der bestimmt hatte, daß der alte Wald nicht angetastet werden durfte.
Sie brauchte eine gute halbe Stunde bis zu dem kleinen Parkplatz am Ledsjö. Sie rollte die Vespa in ein Gebüsch hinter einer hohen Eiche. Auf der Straße fuhr ein Wagen vorbei, dann war es wieder still.
Sie schulterte den Rucksack und war bereit, ein paar Schritte zu tun und dann die Genugtuung darüber zu verspüren, sich für die Welt unsichtbar gemacht zu haben. Gab es einen stärkeren Ausdruck für die Selbständigkeit des Menschen? Den Schritt über einen Wegrand zu wagen, sich ein paar Meter in den Urwald hineinzubegeben und aufzuhören, sichtbar zu sein. Und damit nicht länger zu existieren.
Als sie jünger war, hatte sie zuweilen gedacht, das, womit sie sich beschäftigte, sei etwas anderes als das, was sie sich vorstellte. Es war keine Stärke, sondern eine Schwäche, ein Ausdruck irgendeiner Form von Bitterkeit, die sich in ihr verbarg, ohne daß sie wußte, was es war oder warum. Eigentlich hatte ihr älterer Bruder Häkan ihr das beigebracht. Daß es zwei Sorten Menschen gab, diejenigen, die den geraden, den kürzesten und schnellsten Weg wählten, und dann die anderen, die nach dem Umweg suchten, wo die unerwarteten Ereignisse, die Kurven und die Hügel zu finden waren. Sie hatten in den Wäldern um Älmhult gespielt, wo sie aufgewachsen waren. Als ihr Vater, der im Außendienst beim Telegraphenamt arbeitete, sich beim Sturz von einem hohen Telefonmast schwer verletzte, zogen sie nach Schonen, weil ihre Mutter im Krankenhaus von Ystad Arbeit gefunden hatte. Sie war in den Teenagerjahren, anderes als Wegränder und Umwege wurde wichtiger, und erst, als sie eines Tages vor den Toren der Universität Lund stand und erkannte, daß sie überhaupt keine Vorstellung davon hatte, wozu sie ihr Leben nutzen wollte, kehrte sie zu den Erinnerungen an ihre Kindheit zurück. Ihr Bruder Hakan hatte einen Beruf gewählt, bei dem die Wege von ganz anderer Beschaffenheit waren. Er hatte auf verschiedenen Schiffen angeheuert und später eine Ausbildung zum Schiffsoffizier gemacht. Seine Wege waren jetzt die Wasserstraßen, und er schrieb dann und wann nach Hause an seine Schwester und erzählte davon, wie schön es war, des Nachts über scheinbar unendliche Meere zu navigieren. Sie war neidisch gewesen, aber zugleich ließ sie sich von ihm anspornen.
Eines Tages im Herbst des ersten mühevollen Jahres an der Universität, als sie in Ermangelung eines Besseren angefangen hatte, Jura zu studieren, war sie mit dem Fahrrad auf der Straße nach Staffanstorp gefahren und aufs Geratewohl in einen Feldweg eingebogen. Sie hatte angehalten und war einem Pfad gefolgt, der zu den zerfallenen Resten einer alten Mühle führte. Da war ihr der Gedanke gekommen. Er war wie ein Blitz in ihr Bewußtsein eingeschlagen. Was ist eigentlich ein Pfad? Warum verläuft ein Pfad auf der einen und nicht auf der anderen Seite eines Baums oder Steins? Wer ging den Pfad zum erstenmal? Wann ging jemand hier zum erstenmal?
Sie starrte auf den Pfad zu ihren Füßen und wußte, daß dies ihre Lebensaufgabe sein würde. Sie wollte die Analytikerin und große Beschützerin der schwedischen Pfade werden. Sie würde die Geschichte des schwedischen Pfads schreiben. Sie lief zu ihrem Fahrrad zurück, brach am nächsten Tag ihr
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