Vor dem Frost
dauerte einen Augenblick, bis sie sich an das Licht im Innern gewöhnte, das im Kontrast zum blendenden Sonnenlicht stand. Eine Frau um die Vierzig saß an einer Töpferscheibe und arbeitete mit einem Messer an einem Gesicht aus Ton. Sie formte ein Ohr. Linda stellte sich vor und entschuldigte sich wegen der Störung. Die Frau legte das Messer hin und wischte sich die Hände ab. Sie gingen hinaus in die Sonne.
Das Gesicht der Frau war bleich, sie wirkte übernächtigt, aber ihre Augen waren freundlich. »Ich habe von ihm gehört. Dem Mann, der ein Bild wie das andere malte.«
»Nicht ganz. Er hatte zwei Motive. Eins war eine Landschaft mit Auerhahn, das andere war ohne den Vogel, nur Landschaft, ein See, ein Sonnenuntergang, eine Anzahl Bäume. Er benutzte Schablonen für alles, nur nicht für die Sonne. Die malte er freihändig.«
»Manchmal kommt es mir vor, als sei er noch da drinnen. War er oft wütend?«
Linda blickte sie verwundert an.
»Es hört sich manchmal an, als säße jemand da drinnen und murrte.«
»Das ist bestimmt er.«
Die Frau stellte sich als Barbro vor und bot Linda Kaffee an.
»Nein, danke, ich muß weiter. Ich habe aus reiner Neugier angehalten.«
»Wir sind von Huskvarna hierhergezogen«, sagte Barbro. »Weg von der Stadt, obwohl sie nicht groß war. Lars, mein Mann, gehört zu der neuen Generation von Alleskönnern. Er kann Fahrräder und Uhren reparieren, aber auch Diagnosen für kranke Kühe stellen und phantastische Märchen erzählen. Wir haben zwei Kinder.«
Sie bremste sich, als habe sie zuviel gesagt vor einer Fremden, und dachte nach. »Vielleicht vermissen sie das am meisten«, fuhr sie fort. »Seine phantastischen Märchen.«
Sie begleitete Linda hinaus zum Wagen.
»Er ist also nicht mehr da«, sagte Linda vorsichtig.
»Obwohl er vieles konnte, gab es doch etwas, was er nicht erkannt hatte. Daß man Kindern nie entkommt. Er bekam die Panik, nahm sein Fahrrad und fuhr davon. Jetzt wohnt er wieder in Huskvarna. Aber wir reden miteinander, und jetzt, wo er die Verantwortung nicht fühlt, kümmert er sich mehr um die Kinder.«
Sie verabschiedeten sich beim Wagen.
»Wenn man meinen Großvater lieb darum bat, nicht böse zu sein, wurde er meistens ruhig. Aber es mußte eine Frau sein, die ihn bat, sonst hörte er nicht. Das galt zu seinen Lebzeiten. Vielleicht trifft es auch jetzt zu, wo er tot ist.«
»War er glücklich?«
Linda überlegte. Das Wort paßte nicht richtig zu dem Bild, das sie von ihrem Großvater hatte.
»Seine größte Freude war es, dort drinnen im Halbdunkel zu sitzen und dasselbe zu tun, was er am Tag zuvor getan hatte. Er fand seine Ruhe in der Wiederholung. Wenn man das Glück nennen kann, war er glücklich.«
Linda schloß den Wagen auf. »Ich bin wie er«, sagte sie und lächelte. »Ich weiß also, wie man ihn nehmen muß.«
Sie fuhr davon. Im Spiegel sah sie Barbro zurückbleiben. Das passiert mir nicht, dachte sie. Mit zwei Kindern in einem alten Haus hier im windigen Österlen sitzenbleiben. Nie und nimmer.
Der Gedanke brachte sie in Rage. Ohne es zu merken, gab sie Gas. Erst als sie auf die Hauptstraße einbiegen mußte, trat sie heftig auf die Bremse.
Annas Mutter, Henrietta Westin, wohnte in einem Haus, das den Eindruck erweckte, als wolle es sich hinter mächtigen Wachposten in Gestalt dichter Baumgruppen verbergen. Linda mußte suchen und umkehren und zurücksetzen, bevor sie an die richtige Abzweigung gelangte. Neben einer rostigen Mähmaschine hielt sie an und stieg aus. Die Hitze rief ein paar flüchtige Erinnerungsbilder an eine Urlaubsreise nach Griechenland wach, die sie mit Ludwig gemacht hatte, als ihre Beziehung noch intakt war. Sie warf den Kopf in den Nacken, schüttelte die Gedanken ab und machte sich zwischen den riesigen Bäumen auf die Suche. Eine Weile blieb sie stehen und hob die Hand zum Schutz gegen die Sonne. Ein Geräusch hatte ihre Aufmerksamkeit geweckt, ein Knattern, als wenn jemand wie besessen hämmerte. Durchs dichte Blattwerk hindurch entdeckte sie einen Specht, der grimmig seinen Rhythmus gegen den Baumstamm schlug. Vielleicht ist er ein Teil ihrer Musik, dachte Linda. Wenn ich Anna richtig verstanden habe, ist ihrer Mutter kein Geräusch fremd. Der Specht ist vielleicht ihr Trommler.
Sie verließ den trommelnden Vogel und ging an einem verwahrlosten, sicher seit Jahren nicht benutzten und gepflegten Gemüsegarten vorbei. Was weiß ich eigentlich von ihr, dachte Linda. Und was tue ich hier? Sie blieb
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