Vor dem Frost
stehen und versuchte, es zu fühlen. Genau in diesem Moment, im Schatten der hohen Bäume, war sie nicht besorgt. Es gab sicher eine plausible Erklärung dafür, daß Anna nicht da war. Linda machte kehrt und ging zurück zu ihrem Wagen.
Der Specht war plötzlich verstummt und verschwunden. Alles verschwindet, dachte sie. Menschen und Spechte, meine Träume und all die Zeit, die ich zu haben glaubte, die aber in Strömen verrinnt, die ich vergebens aufzustauen versuche. Sie zog ihre unsichtbaren Zügel an und hielt inne. Warum gehe ich zurück? Wenn sie schon einen Ausflug mit Annas Wagen machte, konnte sie ebensogut hineingehen und Henrietta besuchen. Ohne Sorge, ohne vorsätzliche Neugier, ob Henrietta wußte, wohin Anna verschwunden war. Vielleicht war sie ganz einfach nach Lund gefahren. Ich habe ihre Telefonnummer in Lund nicht, dachte sie. Darum könnte ich Henrietta jedenfalls bitten.
Sie folgte dem Pfad durch das Wäldchen und gelangte zu dem weißgekalkten Fachwerkhaus, das zwischen wilden Rosenbüschen eingebettet war. Eine Katze lag auf der Treppe und betrachtete sie mit aufmerksamen Augen. Linda ging zum Haus. Ein Fenster war offen. Gerade als sie sich hinunterbeugte, um die Katze zu streicheln, hörte sie durch das offene Fenster Geräusche. Henriettas Musik, dachte sie.
Dann erhob sie sich plötzlich und hielt den Atem an. Was sie durchs Fenster hörte, war keine Musik. Es war eine Frau, die weinte.
Im Haus begann ein Hund zu bellen. Linda fühlte sich ertappt und beeilte sich, an der Haustür zu klingeln. Es dauerte einen Moment, bis geöffnet wurde.
Henrietta hielt den wütend bellenden Elchhund im Nacken. »Er tut nichts«, sagte sie. »Komm herein.«
Linda fühlte sich nie ganz sicher, was fremde Hunde anging. Sie zögerte, bevor sie in den Flur trat. Doch sobald sie über die Schwelle getreten war, verstummte der Hund. Als habe sie eine unsichtbare Bellgrenze überschritten. Henrietta ließ den Hund los. Linda konnte sich nicht daran erinnern, daß Henrietta früher so klein und mager gewesen war. Was hatte Anna gesagt? Henrietta war noch keine Fünfzig. Linda dachte, daß Henriettas Körper bedeutend älter wirkte. Aber ihr Gesicht war jung. Patos, der Hund, beschnüffelte ihre Beine und ging dann zu seinem Korb, um sich dort auszustrecken.
Linda dachte an das Weinen, das sie gehört hatte. In Henriettas Gesicht waren keine Tränen zu sehen. Linda warf einen Blick über Henrietta hinweg. Doch es war niemand sonst zu sehen.
Henrietta bemerkte ihren Blick. »Suchst du nach Anna?«
»Nein.«
Henrietta mußte plötzlich lachen. »Das hatte ich nicht erwartet. Zuerst rufst du an, und dann kommst du zu Besuch. Was ist passiert? Ist Anna noch immer verschwunden?«
Linda war überrascht über Henriettas Direktheit. Zugleich war sie ihr eine Hilfe.
»Ja.«
Henrietta zuckte mit den Schultern und schob Linda in den großen Raum, das Resultat vieler herausgeschlagener Wände, das als Wohnzimmer und Arbeitsraum diente.
»Anna ist bestimmt in Lund. Sie zieht sich ab und zu zurück. Offenbar ist das theoretische Wissen, das ein angehender Arzt sich aneignen muß, ziemlich schwierig. Anna ist keine Theoretikerin. Wem sie gleicht, weiß ich eigentlich nicht. Nicht mir, nicht ihrem Vater. Vielleicht gleicht sie nur sich selbst.«
»Hast du ihre Telefonnummer in Lund?«
»Ich weiß nicht, ob sie Telefon hat. Sie hat ein Zimmer in einer WG. Aber ich habe nicht einmal die Adresse.«
»Ist das nicht ein bißchen komisch?«
Henrietta runzelte die Stirn. »Warum? Anna ist eine geheimnisvolle Person. Wenn man sie nicht in Frieden läßt, kann sie wütend werden. Wußtest du das nicht?«
»Nein. Hat sie kein Handy?«
»Sie gehört zu den wenigen, die da nicht mitmachen«, sagte Henrietta. »Ich habe ein Handy. Ich verstehe nicht, warum man überhaupt noch ein Festnetztelefon braucht. Aber Anna, nein. Sie hat kein Handy.«
Sie verstummte, als sei ihr plötzlich ein Gedanke gekommen. Linda sah sich im Raum um. Jemand hatte geweint. Der Gedanke, Anna könnte hier sein, war ihr nicht gekommen, bis Henrietta selbst darauf hinwies. Nicht Anna, dachte Linda. Warum sollte sie hier bei ihrer Mutter sitzen und weinen? Anna ist einfach kein Mensch, der weint. Einmal, als wir noch klein waren, fiel sie von einem Klettergestell und tat sich weh. Da hat sie geweint, das weiß ich noch. Aber das ist das einzige Mal. Als wir in Tomas verliebt waren, war ich es, die weinte, und sie wurde wütend. Allerdings nicht so
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