Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
Vom Netzwerk:
wütend, wie Henrietta behauptet.
    Sie betrachtete Annas Mutter, die auf dem glattgeschliffenen Holzfußboden stand. Ein Sonnenstrahl huschte über ihr Gesicht. Sie hatte ein scharfes Profil, genau wie Anna.
    »Ich bekomme selten Besuch«, sagte Henrietta plötzlich, als sei es das gewesen, woran sie die ganze Zeit gedacht hatte.
    »Die Menschen gehen mir aus dem Weg, weil ich selbst ihnen gern aus dem Weg gehe. Außerdem glauben sie, ich sei wunderlich. Man soll nicht allein mit einem Elchhund im schottischen Lehm sitzen und Musik komponieren, die niemand hören will. Und dadurch, daß ich noch immer mit einem Mann verheiratet bin, der mich vor vierundzwanzig Jahren verlassen hat, wird die Sache auch nicht besser.«
    Linda nahm einen Unterton von Einsamkeit und Bitterkeit in Henriettas Stimme wahr. »Woran arbeitest du gerade?« fragte sie.
    »Du brauchst dir keine Mühe zu geben. Warum bist du hergekommen? Weil du dir wegen Anna Sorgen machst?«
    »Ich habe mir Annas Auto ausgeliehen. Mein Großvater hat hier in der Nähe gewohnt. Ich bin zu dem Haus gefahren und dann zu dir. Ein Ausflug. Die Tage vergehen so langsam.«
    »Bis du die Uniform anziehen kannst?«
    »Ja.«
    Henrietta holte Kaffeetassen und eine Thermoskanne. »Ich begreife nicht, wie ein hübsches junges Mädchen wie du sich dazu entschließen kann, sein Leben bei der Polizei zu verbringen. Ich stelle mir vor, daß Polizisten ständig in Schlägereien verwickelt sind. Als bestünden Teile der Bevölkerung unseres Landes aus Menschen, die von Rauferei zu Rauferei taumeln. Und die Polizei führt einen ewigen Kampf, diese Menschen zu trennen.«
    Sie goß Kaffee ein. »Aber du hast vielleicht eine Büroarbeit«, fuhr sie fort.
    »Ich werde in einem Streifenwagen sitzen und ganz bestimmt so eine sein, wie du sie dir vorstellst. Jemand, der ständig bereit ist, dazwischenzugehen.«
    Henrietta setzte sich und stützte das Kinn in die Hand. »Und damit willst du dein Leben verbringen?«
    Linda fühlte sich plötzlich angegriffen. Sie begann sich zu wehren. Sie wollte nicht in Henriettas Bitterkeit hineingezogen werden. »Ich bin kein hübsches Mädchen. Ich bin fast dreißig, und mein Aussehen ist höchst normal. Die Jungen finden meistens, daß ich einen hübschen Mund und einen schönen Busen habe. Das finde ich manchmal selbst auch. Auf jeden Fall in Augenblicken, in denen ich mit mir zufrieden bin. Aber ansonsten bin ich höchst normal. Ich habe nie davon geträumt, einmal Miss Sweden zu werden. Außerdem kann man sich fragen, wie es aussähe, wenn es keine Polizisten gäbe. Mein Vater ist Polizist. Und ich schäme mich nicht für das, was er tut.«
    Henrietta schüttelte langsam den Kopf. »Ich wollte dich nicht verletzen.«
    Linda war immer noch verärgert. Sie empfand das vage Bedürfnis, Henrietta etwas heimzuzahlen. »Ich dachte, ich hätte jemanden weinen hören, als ich hereinkam.«
    Henrietta lächelte. »Ich habe das auf Band aufgenommen. Ein Entwurf für ein Requiem, in dem ich Musik mit den eingespielten Geräuschen weinender Menschen mische.«
    »Ich weiß nicht, was ein Requiem ist.«
    »Eine Totenmesse. Ich schreibe zur Zeit fast nichts anderes.«
    Henrietta stand auf und ging zu dem großen Flügel am Fenster, durch das man über Felder und wogende Hügel bis zum Meer blicken konnte. Auf einem großen Tisch neben dem Flügel standen ein Tonbandgerät und verschiedene Keyboards und Mischpulte. Henrietta schaltete das Tonbandgerät ein. Eine Frau weinte, es war das Geräusch, das Linda durchs Fenster gehört hatte.
    Ihre Neugier, was Annas wunderliche Mutter betraf, wurde aufs neue ernsthaft entfacht. »Hast du weinende Frauen aufgenommen?«
    »Das ist aus einem amerikanischen Film. Weinen hole ich mir aus Filmen, von denen ich mir Videos ansehe, oder aus dem Radio. Ich habe ein Register von vierundvierzig weinenden Menschen, vom Baby bis zu einer alten Frau, die ich heimlich in einem Pflegeheim aufgenommen habe. Wenn du willst, kannst du gern ein Weinen zu meinem Archiv beisteuern.«
    »Nein danke.«
    Henrietta setzte sich an den Flügel und schlug ein paar einsame Töne an. Linda stellte sich neben sie. Henrietta hob die Hände, schlug einen Akkord an und trat auf eines der Pedale. Der Raum wurde von einem mächtigen Laut erfüllt, der langsam wieder verklang. Henrietta nickte Linda zu, sich zu setzen. Sie nahm einen Stapel Notenblätter von einem Schemel. Henrietta betrachtete sie mit forschenden Augen.
    »Warum bist du eigentlich

Weitere Kostenlose Bücher