Vor dem Frost
Jurastudium ab und begann ein Studium der Geschichte und Kulturgeographie. Sie hatte das Glück, einem verständnisvollen Professor zu begegnen, der einsah, daß sie ein Studiengebiet gefunden hatte, das noch nicht etabliert war. Er bemerkte ihren Enthusiasmus und förderte sie.
Sie folgte dem Pfad, der sich sanft am Ufer des Ledsjö entlangschlängelte. Die Bäume waren hoch und verdeckten die Sonne. Einmal war sie am Amazonas gewesen und durch den dampfenden Regenwald gegangen. Es war wie der Eintritt in eine unendliche Kathedrale, in der das Laubwerk das Sonnenlicht filterte wie farbige Fenster. Ein wenig von diesem Gefühl erfüllte sie jetzt, als sie dem Pfad am Ufer des Ledsjö folgte.
Ebendiesen Pfad hatte sie schon vor langer Zeit kartiert. Es war ein gewöhnlicher Wanderweg, der in die 1930er Jahre zurückverfolgt werden konnte, als Rannesholm noch der Familie Haverman gehörte. Einer der Grafen, Gustav Haverman, war ein begeisterter Freiluftsportler gewesen und hatte Weiden und Buschwerk gerodet und den Pfad um den See angelegt. Aber etwas weiter entfernt von hier, dachte sie, etwas tiefer in diesem merkwürdigen Wald, wo niemand etwas anderes sieht als Moos und Steine, da werde ich abbiegen und dem Pfad folgen, den ich vor ein paar Tagen entdeckt habe. Wohin er führt, weiß ich nicht. Aber nichts ist verlockender, als einem Pfad zum erstenmal zu folgen. Immer noch hoffe ich, einmal im Leben auf einem Pfad zu gehen, der sich am Ende als ein Kunstwerk erweist, ein Pfad ohne Ziel, ein Pfad, der nur dazu geschaffen wurde, daß es ihn gibt.
Sie hielt auf einer Anhöhe inne und atmete tief durch. Zwischen den Bäumen glänzte der spiegelglatte See. Sie war jetzt dreiundsechzig. Sie brauchte noch fünf Jahre. Fünf Jahre, um ihr Lebenswerk zu vollenden, die Geschichte des schwedischen Pfads. Mit diesem Buch würde sie allen beweisen, daß Pfade die wichtigsten Spuren früherer Generationen und Gesellschaften waren. Aber die Pfade waren nicht nur Wanderwege. Es gab, und dafür würde sie überzeugende Beweise und Argumente vorbringen, auch philosophische und religiöse Aspekte des Themas, zum Beispiel wie und wo Pfade sich durch die Landschaft schlängelten. In früheren Jahren hatte sie kleinere, häufig regionale Studien und Kartierungen von Pfaden veröffentlicht. Doch das entscheidende große Werk hatte sie noch zu schreiben.
Sie ging weiter. Die Gedanken bewegten sich frei in ihrem Kopf. So hielt sie es immer, wenn sie auf dem Weg zu einem Pfad war, den sie studieren wollte. Sie ließ ihren Gedanken freien Lauf, als machte sie Hunde von der Leine los. Dann, wenn die Arbeit begann, war sie selbst der Hund, der vorsichtig und mit geschärften Sinnen versuchte, die Geheimnisse des Pfads zu ergründen. Sie wußte, daß viele sie für verrückt hielten. Ihre beiden Kinder hatten sich als Heranwachsende oft gefragt, was ihre Mutter eigentlich machte. Ihr Mann, der vor einem Jahr gestorben war, hatte jedoch Verständnis gezeigt. Auch wenn sie ahnte, daß er im Innersten der Meinung war, eine sonderbare Frau geheiratet zu haben. Jetzt war sie allein, und in der Familie war Hakan der einzige, der sie verstand. Sie teilten die Faszination angesichts der geringsten Wege des Menschen, der Pfade, die sich über die Erde wanden.
Sie blieb stehen. Für das ungeübte Auge gab es nichts anderes als Gras und Moos rechts und links des Pfads. Doch sie hatte es erkannt. Hier begann ein anderer, überwachsener Pfad, der vielleicht viele, viele Jahre lang nicht benutzt worden war. Bevor sie zwischen den Bäumen verschwand, ging sie vorsichtig hinunter zum Strand, setzte sich auf einen Stein und holte ihre Thermoskanne hervor. Draußen auf dem See glitt ein Schwanenpaar vorüber. Sie trank Kaffee und blinzelte in die Sonne. Ich bin ein glücklicher Mensch, dachte sie. Ich habe noch nie etwas anderes getan als das, wovon ich geträumt habe.
Als Kind habe ich einmal eins von Häkans Büchern geliehen,
Der Pfadfinder.
Das wurde mein Leben. Genau das habe ich gemacht, Pfade gefunden und sie verstanden. Wie andere versuchen, Inschriften auf Felsplatten und Runensteinen zu verstehen.
Sie packte die Thermoskanne ein und wusch die Tasse in dem braunen Wasser aus. Das Schwanenpaar war um die Landspitze verschwunden. Sie kletterte den steilen Hang hinauf und achtete genau darauf, wohin sie die Füße setzte. Im Jahr zuvor hatte sie sich den Fuß gebrochen, als sie südlich von Brösarp umgeknickt war. Der Unfall hatte sie zu einer
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