Vor dem Frost
daß er nie zurückkam.«
»Ich dachte, es wüßte niemand, ob er lebt oder tot ist?«
»Natürlich ist er tot. Er ist seit vierundzwanzig Jahren fort. Wo sollte er denn jetzt noch sein?«
»Anna glaubt, sie hätte ihn auf der Straße gesehen.«
»Sie sieht ihn an jeder Straßenecke. Ich habe versucht, sie davon zu überzeugen, daß sie der Wahrheit ins Auge sehen muß. Keiner von uns weiß, was passiert ist, wie er mit seiner Enttäuschung umging. Aber daß er tot ist, halte ich für selbstverständlich. Seine Träume waren zu groß, als daß er sie hätte tragen können.«
Henrietta verstummte. Der Hund seufzte in seinem Korb.
»Was glaubst du?« fragte Linda.
»Ich weiß nicht. Ich habe versucht, ihm zu folgen, ihn mir da vorzustellen, wo er war. Manchmal glaube ich, daß er in gleißendem Sonnenlicht an einem Strand entlanggeht. Ich muß die Augen zukneifen, um ihn wirklich zu sehen. Plötzlich bleibt er stehen und watet ins Wasser hinaus, bis nur noch sein Kopf zu sehen ist. Und dann ist er verschwunden.«
Sie spielte wieder mit leeren Fingerbewegungen, rührte nur eben an die Tasten.
»Ich glaube, er hat aufgegeben. Als er einsah, daß sein Traum nur ein Traum war. Und daß Anna, die er verlassen hatte, ein wirklicher Mensch war. Aber da war es wohl zu spät. Er hatte stets ein schlechtes Gewissen, auch wenn er das zu verbergen versuchte.«
Henrietta schlug mit einem Knall den Klavierdeckel zu und stand auf. »Noch Kaffee?«
»Nein danke. Ich muß jetzt gehen.«
Henrietta wirkte unruhig. Linda betrachtete sie aufmerksam. Plötzlich ergriff sie Lindas Arm und summte eine Melodie, die Linda bekannt vorkam. Ihre Stimme bewegte sich zwischen dem Schrillen und dem Unbeherrschten und dem Sanften und dem Klaren.
»Hast du das Lied schon einmal gehört?« fragte sie, als sie geendet hatte.
»Ich kenne es. Aber ich weiß nicht, wie es heißt.«
»Buona sera.«
»Ist es spanisch?«
»Italienisch. Es heißt ›Guten Abende. Es war in den fünfziger Jahren populär. Es kommt häufig vor, daß die Menschen heutzutage bei alter Musik Anleihen machen oder sie stehlen oder verhunzen. Aus Bach macht man Popmusik. Ich mache es jetzt umgekehrt. Ich verwandle Bachs Choräle nicht in Popmusik, ich nehme Buona sera und mache es zu klassischer Musik.«
»Geht das?«
»Ich breche die Töne und Strukturen auf, ändere den Rhythmus, tausche Gitarrensoli gegen massive Streichersequenzen. Wenn es fertig ist, spiele ich es dir vor. Dann werden die Leute endlich verstehen, was ich in all diesen Jahren zu tun versucht habe.«
Henrietta begleitete sie hinaus. Der Hund kam mit. Die Katze war nicht mehr da. »Ich würde mich freuen, wenn du einmal wiederkommst.«
Linda versprach es. Sie fuhr los. Über dem Meer in der Richtung von Bornholm türmten sich Gewitterwolken auf. Linda fuhr an den Straßenrand und stieg aus. Sie hatte das Bedürfnis zu rauchen. Vor drei Jahren hatte sie aufgehört. Aber dann und wann bekam sie wieder Lust, obwohl es immer seltener wurde.
Manche Dinge wissen Mütter nicht über ihre Töchter, dachte sie. Zum Beispiel, wie nah Anna und ich uns kamen. Hätte sie das gewußt, hätte sie nie behauptet, daß Anna ständig davon redete, ihren Vater auf der Straße zu sehen. Anna hätte es mir erzählt. Wenn ich auch sonst nicht sicher bin, aber in dem Punkt bin ich es.
Sie blickte zu den Gewitterwolken auf, die näher kamen.
Es gab nur eine Erklärung. Henrietta hatte über ihre Tochter und den verschwundenen Vater nicht die Wahrheit gesagt.
Kurz nach fünf Uhr am Morgen ließ sie das Rollo im Schlafzimmer hochschnappen. Das Thermometer zeigte neun Grad plus. Der Himmel war klar, der Wimpel des Windmessers im Hof hing reglos herunter. Ein vollendeter Tag für eine Expedition, dachte sie. Sie hatte am Abend zuvor alles vorbereitet und verließ ihre Wohnung in einem Mehrfamilienhaus genau gegenüber dem alten Bahnhof von Skurup. Im Hof, unter einer eigens dafür angefertigten Abdeckplane, stand ihre Vespa. Sie besaß sie seit fast vierzig Jahren. Da sie sie stets ordentlich gepflegt hatte, war die Vespa immer noch in sehr gutem Zustand. Das Gerücht von ihrer vierzig Jahre alten Vespa hatte sogar die Fabrik in Italien erreicht, und man hatte mehrfach bei ihr angefragt, ob sie sich vorstellen könne, die Vespa ihre Tage im Museum des Herstellers beenden zu lassen, wofür sie jedes Jahr für den Rest ihres Lebens gratis mit einer neuen Vespa ausgestattet werden sollte. Aber sie hatte stets abgelehnt, mit
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