Vor dem Frost
John Lifton war, wie es in seinen falschen Papieren stand, und daß er wirklich keinerlei Geld hatte, hatte er tief und schwer geschlafen, an eine alte Indianerin gelehnt, die einen Käfig mit zwei Hühnern auf dem Schoß hatte. Sie hatten keine Worte gewechselt, nur Blicke, und sie hatte sein Elend und seine Erschöpfung gesehen und ihm ihre Schulter und ihren runzligen Hals geliehen, um den Kopf anzulehnen. In der Nacht träumte er von denen, die er zurückgelassen hatte. Er erwachte schweißgebadet. Die alte Indianerin war wach. Sie sah ihn an, und er sank wieder zurück an ihre Schulter. Als er am nächsten Morgen wieder wach wurde, war sie fort. Er tastete mit den Fingern in seinen Strumpf. Das dicke Bündel mit Dollarscheinen war noch da. In ihm war eine Sehnsucht nach der alten Frau, die ihn hatte schlafen lassen. Er wollte zurück zu ihr, wollte für den Rest des Lebens, der ihm blieb, den Kopf an ihre Schulter und ihren Hals lehnen.
Von Barranquilla flog er nach Mexiko City. Er nahm das billigste Ticket, was bedeutete, daß er auf dem schmutzigen Flugplatz warten mußte, bis ein Platz frei war. Auf einer Toilette wusch er sich den schlimmsten Schmutz ab. Er kaufte ein neues Hemd und eine kleine Bibel. Es war verwirrend, so viele Menschen vorbeigehen zu sehen, all diese Eile, das Leben, das er sich bei Jim abgewöhnt hatte. Er kam an den Zeitungsständen vorbei und sah, daß das, was geschehen war, eine Weltneuigkeit war. Alle waren tot, las er. Man glaubte, daß niemand überlebt habe. Das bedeutete, daß auch er tot war. Er war noch da, aber er gehörte nicht länger zu den Lebenden, weil angenommen wurde, daß er zwischen den faulenden Körpern dort im Dschungel von Guyana lag.
Am Morgen des fünften Tages bekam er einen Platz in einer Maschine nach Mexiko City. Er hatte noch keinen Plan. Er besaß noch dreitausend Dollar, nachdem das Flugticket bezahlt war. Damit konnte er ziemlich lange auskommen, wenn er sparsam lebte. Aber wohin sollte er gehen? Wo konnte er den ersten Schritt tun, um zu Gott zurückzufinden?
Wohin sollte er gehen, damit Gott ihn fand? Wo würde er aus der unerträglichen Leere heraustreten können, die ihn umgab? Er wußte es nicht. Er blieb in Mexiko City, nahm ein Zimmer in einer Pension und widmete die Tage dem Besuch von Kirchen. Er vermied die großen Kathedralen, in denen fand er nicht den Gott, den er suchte, auch nicht in den neonglitzernden Tabernakeln, die von den machtbesessenen und gierigen Priestern verwaltet wurden, die Erlösung auf Raten verkauften und manchmal Ausverkauf abhielten und billige Restposten von Gottes Wort feilboten. Er suchte die kleinen Erweckungsgemeinden auf, bei denen die Liebe und die Leidenschaft lebendig waren und wo man Priester und Zuhörer kaum voneinander unterscheiden konnte. Dies war der Weg, den er gehen mußte, das hatte er erkannt.
Jim war der mystische und selbstherrliche Führer gewesen, der weit von allen anderen entfernt lebte. Er war der Betrüger, der sich in seiner Unsichtbarkeit glaubwürdig machte. Er hatte sich im Licht versteckt, dachte er. Jetzt will ich den Gott finden, der mich in das heilige Dunkel führen kann. Er wanderte zwischen den kleinen Erweckungshäusern hin und her, nahm teil an Gebet und Gesang, doch die Leere, die er mit sich herumtrug, schien sich unaufhaltsam zu einem Punkt hin auszuweiten, an dem er eines Tages zerbrechen würde. Jeden Morgen erwachte er mit dem stärker werdenden Gefühl, daß er aufbrechen mußte. In Mexiko City fand er keine Spur von Gott. Er hatte die rechte Spur, der er folgen konnte, noch nicht gefunden.
Eines Tages verließ er die Stadt und machte sich auf den Weg nach Norden. Um Geld zu sparen, nahm er verschiedene lokale Busse. Manche Strecken legte er auf Lastwagen zurück. Bei Laredo ging er über die Grenze nach Texas. Er wohnte im billigsten Motel, das er finden konnte, und saß dann fast eine ganze Woche in einer Bibliothek und schlug im Zeitungsarchiv alles nach, was über die große Katastrophe geschrieben worden war. Zu seinem Erstaunen gab es dort Aussagen früherer Anhänger der Volkstempelsekte, in denen das FBI oder die CIA oder die amerikanische Regierung beschuldigt wurden, hinter dem großen Selbstmord und der Hetze gegen Jim und seine Anhänger zu stecken. Ihm brach der Schweiß aus. Warum gab es Menschen, die den Betrüger decken wollten? Ertrugen sie es vielleicht nicht, daß man ihnen ihre Lebenslüge genommen hatte? In seinen langen schlaflosen Nächten
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