Vor dem Frost
dachte er, daß er alles, was geschehen war, niederschreiben sollte. Er war der einzige lebende Zeuge. Er müßte die Geschichte der Volkstempelsekte erzählen, davon erzählen, daß Jim ein Betrüger war, der sich am Ende, als er einsah, daß er seine Macht zu verlieren begann, die Maske der Liebe herunterriß und sein wahres Gesicht zeigte, den Totenschädel mit den leeren Augenhöhlen. Er kaufte ein Schreibheft und begann, Notizen zu machen. Gleichzeitig überkamen ihn Zweifel. Wenn er die wahre Geschichte schreiben wollte, mußte er sagen, wer er war. Nicht John Lifton, sondern ein Mann, der einst eine ganz andere Nationalität und einen anderen Namen gehabt hatte. Wollte er das? Er zögerte immer noch.
In jenen Wochen, nachdem er die Grenze nach Texas überschritten hatte, trug er sich ernsthaft mit dem Gedanken, Selbstmord zu begehen. Wenn die Leere in ihm nicht von einem Gott gefüllt werden konnte, blieb ihm nur, sie mit seinem eigenen Blut zu füllen. Die Seele war ein Behälter, nichts anderes. Er hatte schon eine Stelle ausgesucht, an der er sich von einem Eisenbahnwall auf die Schienen stürzen konnte. Er war fast entschlossen, als er einen letzten Besuch in der Bibliothek machte, um zu sehen, ob es etwas Neues über den Massenselbstmord in Guyana gab.
In einer der am meisten gelesenen Zeitungen in Texas, im
Houston Chronicle,
entdeckte er ein Interview mit einer Frau namens Sue-Mary Legrande, dem ein Foto von ihr beigefügt war. Sie war in den Vierzigern, hatte dunkles Haar und ein schmales, fast spitzes Gesicht. Sie erzählte von Jim Jones und behauptete, sein Geheimnis zu kennen. Er las das Interview und erkannte, daß sie eine entfernte geistige Verwandte von Jim war. Sie war ihm oft begegnet in den Jahren, als Jim behauptete, die Offenbarungen gehabt zu haben, die später zur Gründung der Volkstempelsekte führten.
Ich kenne Jims Geheimnisse, sagte Sue-Mary Legrande. Doch was bedeuteten sie? Darüber erzählte sie nichts. Er starrte auf das Foto. Sue-Marys Augen schienen auf ihn gerichtet zu sein. Sie war geschieden, hatte einen erwachsenen Sohn und besaß jetzt eine kleine Postversandfirma in Cleveland, die etwas vertrieb, was als »Manual der Selbstverwirklichung« bezeichnet wurde. Er hatte von seiner Schulzeit her eine vage Erinnerung, daß Cleveland eine Stadt in Ohio war, die gewissermaßen im Zusammenhang mit dem Bau der großen amerikanischen Eisenbahnlinien geschaffen worden war, nicht nur, weil die Stadt, wenn er sich denn richtig erinnerte, ein Eisenbahnknotenpunkt war, sondern auch, weil dort Stahlwerke lagen, in denen die Schienen hergestellt wurden, die sich über die amerikanischen Prärien erstreckten. Es gab also in Cleveland sowohl Bahnwälle als auch Schienen. Und da gab es auch die Frau, die behauptete, Jim Jones' Geheimnis zu kennen.
Er faltete die Zeitung zusammen und legte sie ins Fach zurück, nickte der freundlichen Bibliothekarin zu und trat auf die Straße. Es war ein ungewöhnlich milder Tag dafür, daß es Dezember war und kurz vor Weihnachten. Er stellte sich in den Schatten eines Baums. Wenn Sue-Mary Legrande in Cleveland mir etwas über Jims Geheimnis erzählen kann, werde ich verstehen, warum ich mich habe täuschen lassen. Dann wird mich diese Schwäche nie wieder befallen.
Er kam spät am Heiligen Abend mit dem Zug in Cleveland an. Da war er seit über dreißig Stunden unterwegs und suchte in einem heruntergekommenen Stadtteil in der Nähe des Bahnhofs ein billiges Hotel. In einem chinesischen Lebensmittelgeschäft, in dem auch Essen serviert wurde, aß er sich satt und kehrte anschließend ins Hotel zurück. In der Rezeption stand eine grüne Plastiktanne und blinkte. Aus dem Fernseher klangen Weihnachtslieder, während gleichzeitig Reklamespots vorbeiflimmerten. Plötzlich spürte er einen gewaltigen Zorn. Jim war nicht nur ein Betrüger, der seine Seele geleert und ihm statt Gott ein großes Loch in seinem Innern gegeben hatte. Jim hatte ihn auch um andere Seiten seines Lebens betrogen. Jim hatte stets gesagt, der wahre Glaube bedeute Entsagung. Aber welcher Gott hatte jemals den Menschen aufgefordert, seinem Kind oder seiner Ehefrau zu entsagen. Er hatte einen Glauben gesucht, um zu denen, die er verlassen hatte, zurückkehren zu können. Aber Jim hatte ihn betrogen. Jetzt war er noch orientierungsloser als zuvor.
Er legte sich in seinem dunklen Hotelzimmer aufs Bett. Ich bin nichts anderes als ein Mensch in diesem Hotelzimmer, dachte er. Wenn ich jetzt
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