Vor dem Frost
war.
»Unverschlossene Tür«, sagte Stefan Lindman. »Kein Hund. Also macht sie einen Abendspaziergang. Wir geben ihr eine Viertelstunde. Wenn wir die Tür offenstehen lassen, weiß sie gleich, daß jemand hier ist.«
»Vielleicht ruft sie die Polizei an«, sagte Linda. »Wenn sie glaubt, daß wir Einbrecher sind.«
»Einbrecher lassen die Tür nicht offenstehen«, antwortete ihr Vater entschlossen.
Er setzte sich in den bequemsten Sessel im Zimmer, faltete die Hände über der Brust und schloß die Augen. Stefan Lindman stellte einen Stiefel in den Türspalt. Linda schlug ein Fotoalbum auf, das Henrietta aufs Klavier gelegt hatte. Ihr Vater atmete schwer aus seinem Sessel. Stefan Lindman summte an der Tür vor sich hin. Linda blätterte. Die ersten Bilder waren aus den siebziger Jahren. Die Farben verblaßten bereits. Anna saß auf der Erde, umgeben von pickenden Hühnern und gähnenden Katzen. Linda dachte an das, was Anna ihr erzählt hatte. Die Erinnerungen an die Landkommune bei Markaryd, in der sie und ihre Eltern in ihren ersten Lebensjahren gewohnt hatten. Auf einem anderen Bild hielt Henrietta ihre Tochter im Arm. Sie trug Clogs, Schlotterhosen und ein Palästinensertuch um den Hals. Wer steht hinter der Kamera? fragte sich Linda. Vermutlich Erik Westin, der bald spurlos verschwinden wird.
Stefan Lindman hatte seinen Platz an der Tür verlassen und war neben sie getreten. Linda zeigte und erklärte ihm, was sie wußte. Die Landkommune, die grüne Welle, der Sandalenmacher, der verschwand.
»Es hört sich an wie ein Märchen«, sagte er. »Aus Tausendundeiner Nacht. ›Der Sandalenmacher, der verschwandc.«
Sie blätterten weiter.
»Ist er auf einem Bild?«
»Die einzigen Fotos von ihm, die ich gesehen habe, waren bei Anna zu Hause. Jetzt sind sie weg.«
Stefan Lindman furchte die Stirn. »Sie nimmt Fotos mit, läßt aber ihr Tagebuch zurück? Stimmt das?«
»Das stimmt. Aber etwas daran stimmt eben nicht.«
Sie blätterten weiter. Anstelle der Kommune mit Hühnern und gähnenden Katzen jetzt eine Wohnung in Ystad. Grauer Beton, ein steriler Spielplatz. Anna jetzt ein paar Jahre älter.
»Als dieses Bild aufgenommen wurde, war er schon ein paar Jahre verschwunden«, sagte Linda. »Die Person, die das Bild gemacht hat, ist dichter an Anna herangegangen. Auf den früheren Bildern war der Abstand größer.«
»Der Vater hat die ersten Bilder gemacht. Jetzt fotografiert Henrietta. Ist es das, was du meinst?«
»Ja.«
Sie gingen das Album weiter durch. Nirgendwo war ein Bild von Annas Vater. Eines der letzten Bilder zeigte Anna am Tag ihres Abiturs. Am Bildrand war Zebra zu erkennen. Linda war auch dabeigewesen. Aber auf dem Bild war sie nicht zu sehen.
Sie wollte gerade umblättern, als das Licht flackerte und dann erlosch. Das Haus war schwarz. Ihr Vater fuhr mit einem Ruck hoch.
Alles war dunkel. Von draußen hörte man einen Hund bellen. Linda dachte, daß dort draußen im Dunkeln auch Menschen waren. Die nicht hervortraten und sich zeigten, die nicht das Licht suchten, sondern sich immer tiefer in die Welt der Schatten zurückzogen.
Im tiefsten Dunkel fühlte er sich am sichersten. Er hatte nie verstanden, warum die Pastoren immer vom Licht redeten, das ständig die große Gnade umgab, die Ewigkeit, das Bild Gottes. Warum konnte ein Wunder nicht im Dunkeln geschehen? War es für den Teufel und seine Dämonen nicht schwerer, einen in der Welt der Schatten zu finden als auf einem erleuchteten Feld, wo weiße Gestalten sich langsam bewegten wie Schaum auf einer Meereswelle? Ihm hatte Gott sich stets als ein großes und sicheres Dunkel offenbart. So war es auch jetzt, als er im Dunkeln vor dem Haus mit den erleuchteten Fenstern stehenblieb. Er sah drinnen Gestalten, die sich bewegten. Als dann alles Licht erlosch und die letzte dunkle Tür sich schloß, war es, als habe Gott ihm ein Zeichen gegeben. Im Dunkeln hatte er ein Königreich. Und das war größer als jenes Reich des Lichts in den Predigten. Ich bin sein Diener im Dunkeln, dachte er. Aus diesem Dunkel kommt kein Licht, sondern die heiligen Schatten, die ich aussende, um die Leere der Menschen zu füllen. Was sie nicht sehen, vermissen sie nicht. Ich werde ihnen die Augen öffnen und sie lehren, daß die Wahrheit sich in Bildern in der Welt des Dunkeln verbirgt. Er dachte an das, was im zweiten Brief des Johannes steht: »Es sind ja viele Verführer in die Welt ausgezogen, die nicht bekennen, Christus sei ein wirklicher, irdischer
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