Vor dem Frost
blieb bei ihr, weil sie ihn aufgenommen hatte. Er brauchte Zeit, um seine Leere zu überwinden. Er brauchte Zeit, um das, was seine Lebensaufgabe werden sollte, zu planen. Er würde dort weitermachen, wo Jim Jones gescheitert war. Er würde die Hybris vermeiden, aber nie vergessen, daß die christliche Erweckung nach Opfern und Blut verlangte.
Mit der Zeit wurden die entsetzlichen Erinnerungen aus dem Dschungel von Guyana immer schwächer und unschärfer. Zwischen Sue-Mary und ihm war eine Liebe, von der er lange glaubte, sie sei die Gnade, die er gesucht hatte, um seine Leere zu füllen. Gott war in Sue-Mary. Er war angekommen. Der Gedanke, seinen Bericht über die Zeit mit Jim niederzuschreiben, verließ ihn nie ganz. Jemand mußte die Geschichte des Betrügers und Antichristen schreiben. Aber er schob es von sich.
Sue-Marys Postversandfirma ging gut. Sie hatten immer zu tun. Besonders nachdem sie etwas geschaffen hatte, was sie das ›Schmerzpunktpaket‹ nannte und für neunundvierzig Dollar zuzüglich Versandkosten verkaufte. Es wurde ein phantastischer Erfolg. Sie wurden allmählich reich, verließen das Haus in Madison und zogen aufs Land, in ein großes Haus in Middleburg Heights. Sue-Marys Sohn Richard kam nach seinem Studium von Minneapolis herüber und ließ sich in der Nachbarschaft nieder. Er war ein Einzelgänger, doch immer freundlich. Es hatte den Anschein, als sei er erfreut darüber, sich nicht selbst um seine einsame Mutter kümmern zu müssen.
Das Ende kam schnell und unerwartet. Eines Tages fuhr Sue-Mary nach Cleveland. Er nahm an, sie habe Erledigungen zu machen. Als sie zurückkam, setzte sie sich ihm gegenüber an seinen Schreibtisch und sagte, daß sie sterben würde. Sie sprach die Worte mit einer eigentümlichen Leichtigkeit aus, als sei es eine Befreiung für sie, es so zu sagen, wie es war.
»Ich habe Krebs und werde sterben«, sagte sie. »Mein Körper ist voller Metastasen. Es gibt keine Hoffnung auf Heilung. Es wird ungefähr drei Monate dauern.«
Sie starb am siebenundachtzigsten Tag nach ihrem Besuch beim Arzt. Es war ein Tag im Frühjahr 1999. Weil sie nicht verheiratet waren, erbte Richard ihr gesamtes Vermögen. Am Abend nach der Beerdigung fuhren sie hinaus an den Eriesee und machten einen langen Spaziergang. Richard wollte, daß er bliebe, daß sie die Postversandfirma und die Einkünfte daraus teilten. Aber er hatte sich schon entschieden. Die Leere in seinem Innern war in all den Jahren, die er mit Sue-Mary zusammengelebt hatte, nur überdeckt gewesen. Er hatte einen Auftrag auszuführen. Die Gedanken und der große Plan waren gereift. Es war, als erkenne er jetzt, daß Gott eine prophetische Vision in ihn versenkt hatte, die zu verwirklichen seine Pflicht war. Er würde das Schwert erheben gegen die große Leere, die ihn umgab, die Leere, die sich dadurch ausbreitete, daß Gott immer schwerer zu entdecken war. Doch das sagte er Richard nicht. Er wollte nur einen Teil des Geldes haben, so viel, wie Richard meinte, entbehren zu können, ohne die Existenz der Firma zu gefährden. Dann würde er aufbrechen. Er hatte einen Auftrag. Richard stellte keine Fragen.
Er verließ Cleveland am 19. Mai 2001 und flog über New York nach Kopenhagen. Spät am Abend des 21. Mai kam er in Helsingborg an. Er stand eine Weile ganz still, als er nach so vielen Jahren wieder schwedischen Boden betreten hatte. Es war, als wären die letzten Reste der Erinnerung an Jim Jones jetzt endlich verschwunden.
Kurt Wallander war gerade im Begriff, beim Elektrizitätswerk anzurufen, als der Strom zurückkam. Nur wenige Sekunden nachdem das Licht wieder angegangen war, zuckten sie zusammen. Durch die Tür kamen ein Hund und Henrietta Westin. Der Hund sprang mit lehmigen Pfoten an Wallander hoch und machte seinen Pullover schmutzig. Henrietta schrie den Hund an, der sich sofort in seinen Korb legte.
Dann warf sie wütend die Leine in die Ecke und sah Linda an. »Ich weiß nicht, was euch das Recht gibt, mein Haus zu betreten, wenn ich nicht da bin. Ich mag keine Menschen, die herumschnüffeln.«
»Wenn der Strom nicht ausgefallen wäre, wären wir wieder draußen«, sagte Kurt Wallander.
Linda merkte, daß er kurz davor war, aus der Haut zu fahren.
»Das ist keine Antwort auf meine Frage, warum Sie überhaupt hier hereinkommen, ohne daß ich die Tür aufgemacht habe«, fuhr Henrietta Westin fort.
Linda fühlte, daß die Gefahr eines Ausbruchs wuchs. »Wir möchten nur wissen, wo Anna ist«, sagte
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