Vor dem Frost
stürbe oder einfach verschwände, würde mich niemand vermissen. In meinem Strumpf würde man Geld finden, um das Zimmer und die Beerdigung zu bezahlen. Wenn nicht jemand das Geld stähle, so daß ich in ein Armengrab geworfen würde. Man würde vielleicht herausfinden, daß es keinen Menschen namens John Lifton gibt. Zumindest keinen, der meine Gestalt hat. Aber vielleicht würde die Sache einfach zur Seite gelegt, wie ein Papier, von dem man nicht richtig weiß, warum man es aufhebt. Und mehr nicht. Ich bin nichts anderes als ein einsamer Mensch in diesem Hotel, von dem ich mir nicht einmal den Namen gemerkt habe.
Am Weihnachtstag schneite es in Cleveland. Er aß beim Chinesen heiße Nudeln, Gemüse und Reis und lag danach reglos auf dem Bett in seinem Zimmer. Am folgenden Tag, dem 26. Dezember, hatte es aufgehört zu schneien. Es lag nur eine dünne Schneedecke auf den Straßen und Bürgersteigen, es war drei Grad kalt und windstill. Das Wasser des Eriesees lag spiegelblank da. Er hatte mit Hilfe des Telefonbuchs und eines Stadtplans Sue-Mary Legrandes Adresse am südlichen Stadtrand von Cleveland ausfindig gemacht und dachte, es sei Gottes Absicht, daß er sie an eben diesem Tag träfe. Er wusch sich sorgfältig, rasierte sich und zog frische Sachen an, die er in einem Second-Hand-Laden in Texas gekauft hatte, bevor er die Reise nach Ohio antrat. Was denkt ein Mensch, der seine Tür aufmacht und mein Gesicht sieht, fragte er sich vor seinem Spiegelbild. Ein Mensch, der noch nicht ganz aufgegeben hat, ein Mensch, der durch großes Leiden hindurchgegangen ist. Er schüttelte den Kopf über beides, seine Gedanken wie sein Spiegelbild. Ich erwecke keine Angst, dachte er. Möglicherweise kann ich Mitleid erwecken, etwas anderes kaum.
Er verließ das Hotel und nahm vom Bahnhof einen Bus, der am Eriesee entlangfuhr. Sue-Mary Legrande wohnte in 1024 Madison. Er brauchte eine knappe halbe Stunde bis dorthin. Sie lebte in einem Steinhaus, das verborgen hinter hohen Bäumen lag. Er zögerte, bevor er sich ein Herz faßte und zwischen die Bäume trat und an der Tür klingelte. Sue-Mary Legrande sah genauso aus wie auf dem Foto im
Houston Chronicle.
Sie war magerer, als er es sich vorgestellt hatte. Sie sah ihn abwartend an, bereit, die Tür zuzuschlagen.
»Ich habe überlebt«, sagte er. »Alle sind in Guyana nicht gestorben. Ich habe überlebt. Ich bin hergekommen, weil ich wissen möchte, was es mit Jim Jones' Geheimnis auf sich hat. Ich will wissen, warum er uns betrogen hat.«
Sie sah ihn lange an, bevor sie antwortete. Sie ließ kein Erstaunen erkennen, überhaupt kein Gefühl. »Ich wußte es«, sagte sie schließlich. »Ich wußte, daß jemand kommen würde.«
Sie öffnete die Tür ein wenig mehr und trat zur Seite. Er folgte ihr hinein und blieb fast zwanzig Jahre in ihrem Haus. Durch sie lernte er den Jim Jones kennen, den zu durchschauen ihm nie gelungen war. Sue-Mary konnte mit ihrer milden Stimme von dem berichten, was Jim Jones' Geheimnis war. Er war nicht Gottes Bote, er hatte Gottes Platz eingenommen. Sue-Mary meinte, Jim Jones habe im Innersten erkannt, daß sein frevelhafter Übermut eines Tages alles zerstören würde, doch habe er nicht vermocht, den einmal eingeschlagenen Kurs zu ändern.
»War Jim Jones wahnsinnig?« hatte er gefragt.
Aber Sue-Mary war entschieden anderer Meinung: Jim Jones war alles andere, nur kein Wahnsinniger. Er hatte es gut gemeint. Er wollte eine weltweite christliche Erweckungsbewegung schaffen. Nur sein Hochmut hatte ihm im Weg gestanden und seine Liebe in Haß verwandelt. Aber wahnsinnig war Jim Jones nie gewesen. Deshalb mußte ihm auch jemand nachfolgen und seine Erweckungsbewegung weiterführen. Es mußte jemand sein, der die Kraft hatte, die Hybris zu vermeiden, der jedoch gleichzeitig nicht davor zurückschreckte, rücksichtslos zu sein, wenn es notwendig war. Die christliche Erweckung mußte mit Blut geschrieben werden.
Er blieb und half ihr, ihre Postversandfirma zu betreiben, die sie Gottes Schlüssel nannte. Sie stellte die seltsamen Manuale selbst zusammen, die Menschen bestellen konnten, wenn sie Hilfe bei der Selbstverwirklichung suchten. Ihm wurde rasch klar, daß sie Jim Jones verstand, weil sie selbst eine Betrügerin war. Er studierte die Manuale, die sie versandten, und es war alles ein Chaos von suggestiven Andeutungen über die Wege der Selbständigkeit, häufig mit Bibelzitaten gespickt, teils richtigen, teils falschen oder veränderten. Doch er
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