Vor dem Frost
Mensch mit Leib und Blut gewesen, und hinter ihnen steht der eine große Verführer, der Feind des Christus, der Antichrist.« Das war sein heiligster Schlüssel zum Verständnis.
Nach der Begegnung mit Jim Jones und nach den schrecklichen Ereignissen im Dschungel von Guyana wußte er, was ein Verführer war. Ein falscher Prophet mit ordentlich gekämmtem Haar, der mit ebenmäßigen weißen Zähnen lächelte und sich stets mit Licht umgab. Jim Jones hatte das Dunkel gefürchtet. Wie oft hatte er sich selbst verflucht, daß er nicht schon damals den falschen Propheten durchschaut hatte, der sie nicht führen, sondern verführen wollte, hinaus in einen Dschungel, in dem sie auch alle sterben sollten. Alle bis auf ihn, der davongekommen war. Das war der erste Auftrag, den Gott ihm gegeben hatte. Er sollte überleben, um der Welt von dem falschen Propheten zu berichten. Er sollte die Lehre vom Dunkel verbreiten, das, was die Einleitung des fünften Evangeliums werden sollte, das er zu schreiben hatte, um die Heilige Schrift zu vollenden. Auch darüber hatte er im zweiten Brief des Johannes etwas gelesen, den Abschiedsgruß: »Ich hätte euch vieles zu schreiben, möchte es euch aber nicht mit Papier und Tinte sagen. Ich hoffe vielmehr, euch besuchen zu können und mündlich mit euch zu reden, so daß wir uns ganz und ungeteilt miteinander freuen können.«
Im Dunkel war Gott ihm stets nah. Am hellichten Tag, bei Sonnenschein, konnte er ihn zuweilen aus dem Blick verlieren. Doch im Dunkel war er immer nah. Dann konnte er Gottes Atem im Gesicht spüren. Der Atem war jede Nacht anders. Er konnte ihm als ein Wind entgegenkommen oder als ein hechelnder Hund, aber meistens war es nur ein schwacher Duft eines unbekannten Gewürzes. Gott war ihm im Dunkel nah, und seine Erinnerungen waren auch immer klar und deutlich, wenn kein Licht seine Ruhe störte.
In dieser Nacht begann er an all die Jahre zu denken, die vergangen waren, seit er zum letztenmal hiergewesen war. Vierundzwanzig Jahre, ein großer Teil seines Lebens. Als er aufbrach, war er noch jung gewesen. Jetzt hatte das Alter schon begonnen, von seinem Körper Besitz zu ergreifen. Es fanden sich kleine Anzeichen für die verschiedenen Gebrechen des Alterns. Er pflegte seinen Körper, wählte sorgfältig aus, was er aß und trank, und er bewegte sich ständig. Aber das Altern ließ sich nicht aufhalten, darum kam niemand herum. Gott läßt uns altern, damit wir einsehen, daß wir ganz und gar in seiner Hand sind. Er hat uns dieses merkwürdige Leben gegeben. Aber er hat es zu einer Tragödie gemacht, damit wir begreifen, daß allein er uns die Gnade gewähren kann.
Er stand dort in der Dunkelheit und dachte zurück. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem er Jim getroffen hatte und ihm in den Dschungel von Guyana gefolgt war, war alles so gewesen, wie er es sich erträumt hatte. Er vermißte die Menschen, die er verlassen hatte, doch Jim hatte ihn davon überzeugt, daß Gott seinen Auftrag, einer von Jims Gefolgsleuten zu werden, als ein wichtigeres Ziel angesehen hatte, als in der Nähe seiner Frau und seines Kindes zu sein. Er hatte auf Jim gehört, und manchmal waren Wochen vergangen, ohne daß er an die beiden dachte. Erst nach dem Zusammenbruch, als alle tot auf den Feldern lagen und verfaulten, waren sie wieder in sein Bewußtsein zurückgekehrt. Doch da war es zu spät, seine Verwirrung war so groß, die Leere so entsetzlich, nachdem Jim ihm Gott genommen hatte, daß er keine andere Bürde zu tragen vermochte als sich selbst.
Er erinnerte sich an die Flucht aus Caracas, wo er seine Dokumente und das Geld, das er beiseite gelegt hatte, abholte. Es war wie eine lange Flucht gewesen, von der er hoffte, sie würde sich in eine Pilgerfahrt verwandeln, eine Reise durch dunkle oder von der Sonne verbrannte Landschaften, in verschiedenen Bussen mit endlosen Stops weit draußen in der Wildnis, wenn Motoren oder Räder defekt gewesen waren. Nur vage erinnerte er sich noch an die Namen von Orten, durch die er gekommen war, von Grenzstationen oder Flugplätzen. Von Caracas war er mit dem Bus nach Kolumbien gefahren, in eine Stadt mit Namen Barranquilla. Er erinnerte sich an die lange Nacht auf der Grenzstation zwischen Venezuela und Kolumbien, die Stadt Puerto Paez mit ihren bewaffneten Männern, die wie die Habichte über allen lauerten, die die Grenze überschritten. In jener Nacht, in der es ihm gelungen war, die mißtrauischen Grenzwachen davon zu überzeugen, daß er wirklich
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