Vor dem Regen - Roman
ein schuldbewusstes Gesicht, wie ein Schulmädchen, das man beim heimlichen Paffen hinter dem Schutzbunker ertappt.
»Ich dachte, du hörst auf.«
»Tu ich ja«, sagte sie und nahm einen tiefen Zug.
Trace war eine jener exotischen Territorianerinnen, deren bunte Abstammung Dusty seit je faszinierte; im Vergleich dazu war die eigene englische Herkunft schlicht langweilig. Trace hatte helle Augen, dunkle Haut und hohe Wangenknochen. Selbst die unregelmäßige Narbe, die ihr Kinn spaltete, wirkte positiv und ließ sie nur noch interessanter erscheinen.
Trace’ Vater war ein Gurindji und hatte am berühmten Victoria-Park-Station-Streik von 1966 teilgenommen, als die Aborigines, die auf der Rinderfarm beschäftigt waren, diese mit der Forderung nach besserer Bezahlung und besseren Arbeitsbedingungen einfach verlassen hatten. Bei ihrer Mutter, die von malaiisch-chinesischer und schottischer Herkunft war, hatten die Wehen zur Geburt des dritten Kindes am Weihnachtsabend des Jahres 1974 eingesetzt. Während um sie herum der Zyklon Tracy mit voller Wucht tobte und Darwin in sämtliche Einzelteile zerlegte - die Böen erreichten Spitzengeschwindigkeiten von bis zu zweihundert Stundenkilometern -, brachte sie eine Tochter zur Welt. Keine Frage, dass sie Tracy genannt wurde.
»Nicht viel los im Krebsklub heute«, sagte Dusty. »Wo stecken denn alle? Sind sie tot?«
»Hast du’s nicht gehört?«
»Was gehört?«, fragte Dusty und dachte wieder an das abgesoffene Nokia.
»Sie ist gefunden worden.«
»Sie« konnte nur eine einzige Person meinen: Dianna McVeigh; der aufsehenerregendste Fall im Northern Territory seit 1980, als ein Dingo ein zehn Wochen altes Baby mit Namen Azaria aus einem Campingzelt geraubt hatte.
»Verdammt!«
»Irgendein verwitterter Goldsucher hat sie da draußen beim Schürfen gefunden.«
»Verdammt!«, bekräftigte Dusty und war schon in Bewegung, nahm Tempo auf.
Dusty hatte das alte Polizeipräsidium in der Altstadt von Darwin sehr gemocht. Es hatte Charakter, es hatte Geschichte, und jede Wand war durchtränkt von den Jahren der Polizeiarbeit, von Verbrechen, die aufgeklärt wurden oder auch nicht; dazu die träge rotierenden Deckenventilatoren, die dem Ganzen einen film-noir -haften Charme verliehen. Ja sicher, das neue Zentrum war vermeintlich auf der Höhe der Zeit, ja sicher, es hatte diesen oder jenen Architekturpreis gewonnen, aber Dusty konnte darin beim besten Willen nicht mehr sehen als einen weiteren beigen Behördenklotz - wären da nicht die Steckbriefe am schwarzen Brett, man könnte glatt meinen, man säße im Sozial- oder Finanzamt.
Sie teilte sich mit den beiden anderen Kollegen der Mordkommission ein Gemeinschaftsbüro, galt es doch »den reibungslosen Wissenstransfer von einer Wissenseinheit
zur nächsten zu gewährleisten«. Heute Vormittag allerdings befand sich nur eine weitere Wissenseinheit an ihrem Schreibtisch: Fontana. Er war groß, kahl und breitschultrig und hatte das sonnengebräunte, früh faltig gewordene Gesicht des fanatischen Sportlers. Mit neununddreißig war er zwar vier Jahre älter als Dusty, aber trotzdem waren sie gleichzeitig in den Polizeidienst eingetreten. In der ersten Zeit waren sie sogar ein paar Mal miteinander ausgegangen, aber inzwischen hatte sich jede sexuelle Anziehung verflüchtigt, und ihre Freundschaft beruhte auf unwillig eingestandenem professionellem Respekt und verbissener sportlicher Rivalität. Als Dusty den Raum betrat, klickte Fontana, wie üblich in kurzärmligem Hemd und khakifarbener Leinenhose, weg, was er auf dem Monitor betrachtet hatte. Das machte er in letzter Zeit öfter. Porno, tippte Dusty. »Wir haben versucht, dich zu erreichen«, sagte er, und es klang fast wie eine Entschuldigung.
»Du meinst …?«
»Leider ja.«
Dusty knallte ihre Tasche so heftig gegen den Schreibtisch, dass ein Haufen loser Blätter aufwirbelte.
»Warum gehst du auch nicht ans Handy?«, wollte Fontana wissen.
»Frag nicht«, entgegnete Dusty.
»Bis neun konnte ich sie hinhalten, aber da warst du immer noch nicht hier. Mehr war echt nicht zu machen.«
»Und wer ist stattdessen dran?«
Bloß nicht die blöde Flick, betete Dusty.
»Die blöde Flick«, sagte Fontana.
Wieder ließ Dusty die Tasche gegen den Schreibtisch knallen, und wieder wirbelte Papier hoch.
Felicity Roberts-Thomson verkörperte so ziemlich alles, was Dusty an einer Kollegin nicht ausstehen konnte.
Das fing schon mit dem Namen an. Wie konnte man denn als Cop um
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