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Vor dem Sturm (German Edition)

Vor dem Sturm (German Edition)

Titel: Vor dem Sturm (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesmyn Ward
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Loch, kaum größer als mein Finger, und ich sehe, dass es die Kettensäge ist, die er mit dem stumpfen Ende gegen das Dach stößt.
    »Ist hier oben« – Randall stößt zu – »irgendwo Benzin?«
    »Weiß ich nicht«, schreit Daddy. Der Sturm spricht durch das Loch mit uns, schickt Wind und Regen hindurch. Wir schauen blinzelnd hin. Das Wasser ist bis über meinen Schritt gestiegen. Das Haus neigt sich.
    Randall kurbelt, einmal, dann noch mal. Er zieht das Kabel ein drittes Mal zurück, und die Säge springt an. Er stößt sie durch die fingerbreite Öffnung, schneidet eine Zickzack-Linie, zieht sie wieder heraus, schneidet noch eine Zickzack-Linie, dann eine Klammer zwischen beide, ehe die Säge tuckernd ausgeht. Er versucht, sie wieder anzuschmeißen, aber es klappt nicht. Stattdessen schwenkt er sie wie einen klobigen Hammer, und das Holz birst krachend und biegt sich nach außen. Er schleudert die Säge erneut nach oben, und das geschlossene Augenlid, das er ins Dach gesägt und geschlagen hat, flattert. Das Dach geht auf. Der Sturm brüllt:
Ich warte schon auf euch
. Licht durchflutet den überfluteten Dachboden, der so geschlossen wirkt wie ein Sarg. Randall schnappt sich Junior, der herumwirbelt und sich an seinem Rücken festkrallt, die kleinen Hände so fest zusammenpresst wie Wäscheklammern, und dann klettert Randall nach draußen in das hungrige Maul des Sturms.
    Es ist fürchterlich. Es ist der Wind, der auf uns eindrischt wie ein Stromkabel, das als Peitsche benutzt wird. Es ist der Regen, der wie Steine in die Augen sticht und uns zwingt, sie zu schließen. Es ist das Wasser, das strudelt und steigt und sich nach allen Seiten ausdehnt, braun mit einer roten Unterströmung, als wäre der Lehmboden des Pit eine Schnittwunde, die nicht aufhören will zu bluten. Es ist der Sperrmüll vom Hof, die Kühlschränke und Rasenmäher, der Wohnwagen und die Matratzen, die wie eine Flotte auf den Fluten treiben. Es sind Bäume und Äste, die abbrechen und klingen wie eine endlose Serie explodierender Knallfrösche, immer wieder, ununterbrochen. Und wir, dicht aneinandergedrängt auf dem Dach, ich mit dem Drahthenkel des Eimers über der Schulter, meinen zitternden Körper an das Plastik gedrückt. Es ist überall. Daddy kniet hinter uns, versucht, uns alle an sich zu pressen. Skeetah hat China umarmt, die jault. Auf dem Hof kippt Daddys Pick-up langsam auf die Seite.
    Skeetah beugt sich vor und zupft an seinen Jeans. Er zieht die Hosen aus, versucht, sie ruhig vor sich zu halten; die Beine flattern im Wind. Er steckt Chinas Hinterbeine in den Schritt und wirft sich dann ein Hosenbein über die Schulter und klemmt sich das andere unter seinen Unterarm.
    »Bind sie zusammen!«, schreit Skeetah.
    Ich mache einen Knoten. Meine Finger sind steif und taub. Ich ziehe, so doll ich kann, an dem nassen Stoff, teste den Knoten. Chinas Kopf und Beine liegen flach an Skeetahs Brust, werden vom Stoff festgedrückt. Sie ist sein Baby im Tragetuch, und sie zittert.
    »Guck mal!«, sagt Skeet und zeigt auf etwas. Ich folge seinem Finger zu dem leeren Gerippe von Mother Lizbeths und Papa Josephs Haus. Die obere Hälfte und der Dachvorsprung liegen über Wasser. »Es steht auf einem Hügel!«, schreit Skeetah.
    »Wie sollen wir da hinkommen?«, brüllt Randall.
    »Der Baum!« Skeetah bewegt sich zentimeterweise über das Dach zu einer ausladenden Eiche, deren Äste unser Haus berühren und bis zu Mother Lizbeths Haus hinüberreichen. Wie ein Klettergerüst ragt sie aus dem brodelnden Wasser. »Wir klettern auf den Baum!«
    »Nein!«, brüllt Daddy. »Wir bleiben hier!«
    »Und wenn das Wasser weiter steigt?«, fragt Randall. »Lieber riskieren wir’s, als hier zu ertrinken!«
    Juniors Zähne sind fest aufeinandergepresst, seine Lippen zurückgezogen. Die Augen hat er sperrangelweit aufgerissen. Während Randall sich langsam über das Dach zum nächstgelegenen Ast bewegt, schaut Junior zurück. Randall legt einen Arm über seine Brust und hält Juniors Arm fest.
    »Genau wie in der Grube, Junior, als wir zum ersten Mal schwimmen waren! Gut festhalten!« Randall hockt sich neben Skeetah an den Dachrand, beide ziehen den Kopf ein wie die Vögel, plustern gegen den starken Wind die Federn auf und halten ihre Bündel dicht an sich gedrückt. Skeetah springt.
    Er greift nach dem erstbesten wippenden Ast und landet halb im Wasser, halb draußen. China jault auf und fängt an zu strampeln, aber Skeetah packt sie mit einer Hand fester

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