Vor dem Sturm (German Edition)
ihr Brustbein auf seinem Knie, aber als Randall das sagt, öffnen beide gleichzeitig einen Spalt breit die Augen. Das halbe UNO-Kartenspiel, das Randall Junior beibringen wollte, klebt um Juniors Beine herum auf dem Boden. Ich schüttele meine Decken ab; der dünne Luftstrom, der säuselnd unter Daddys Tür hervorkommt, fegt zielstrebig und brüsk an mir vorbei wie ein Junge auf dem Schulkorridor, und dann,
Wieso sind meine Shorts nass? Ist es weg? Blute ich? Sollte ich nicht Krämpfe haben?
Ich stehe auf. Der Boden unter mir ist dunkel.
China rollt sich auf die Füße und bleckt die Zähne, und Skeetah packt sie am Genick, als sie zum Sprung ansetzt. Er hält sie fest. Er steht auf und schaut sich ruhig im Raum um.
»Das ist Wasser. Es kommt ins Haus«, sagt Skeetah.
»Hier kommt kein Wasser ins Haus. Das Holz wird nur ein bisschen feucht vom Regen«, sagt Daddy.
»Es kommt durch den Fußboden hoch«, sagt Skeetah.
»Da gibt’s nix, wo es herkommen kann.« Daddy winkt ins Zimmer, wedelt mit der Hand, als wolle er einen von uns davon abhalten, ihm etwas zu geben, das er nicht haben will: sein Antibiotikum, einen Brief von einem Lehrer, eine Broschüre des Fördervereins der Schule.
»Seht doch«, sagt Randall und geht an das Fenster auf der Straßenseite, bückt sich wie ein alter Mann und späht nach draußen. »Lauter Bäume auf der Straße.«
»Aber Wasser siehst du keins«, sagt Daddy.
»Nein.«
Skeetah und China gehen an Junior vorbei, der noch vor dem Sofa steht, an der Stelle, wo Randall ihn stehen gelassen hat. Junior hebt erst den einen, dann den anderen Fuß; er betrachtetseine Fußsohlen, als könne er nicht fassen, dass er Füße hat und dass sie nass sind. Er zieht sich die Shorts vom Körper weg, aber sie kleben trotzdem an ihm. Skeetah schaut aus dem Fenster, China steht neben ihm.
»Da«, sagt Skeetah. Randall und ich rennen zu dem Fenster auf Skeetahs Seite, aber Junior ist als Erster da, und wir drängeln uns dicht aneinander, mit nassen Füßen. Der Teppich unter unseren Füßen ist wie ein vollgesogener Schwamm. Daddy starrt zum Fenster, als wäre es nicht zugenagelt, als könne er hindurchschauen.
Auf dem Hof bildet sich ein See. Er bewegt sich unter den umgestürzten Bäumen wie ein kriechendes Tier, eine breitnasige Schlange. Ihr Kopf verschwindet unter dem Haus, in dem wir stehen, ihr Schwanz wird immer breiter, als hätte sie etwas gefressen, das größer war als sie selbst, und dieser riesige Schwanz erstreckt sich hinter ihr bis in den Wald hinein, zur Grube. China bellt. Der Wind kräuselt die Wasseroberfläche. Es kommt auf uns zu.
Meine Zehen stehen im Wasser.
»Die Grube«, seufzt Randall.
Da steht Daddy auf und geht langsam ans Fenster. Jeder einzelne Knochen in seinen Gelenken scheint in die falsche Richtung gebogen zu sein. Randall tritt zur Seite, damit Daddy hinausschauen kann.
»Nein«, sagt Daddy.
Ich rühre mich, und das Wasser leckt an meinen Knöcheln. Es ist kalt, so kalt wie beim ersten Bad im Frühsommer. China bellt, und als sie vom Fensterbrett springt, landet sie mit einem Platsch.
»Daddy?«, sagt Randall. Er legt den Arm um Junior, der sich mit aufgerissenen Augen an Randalls Bein klammert. Doch ausnahmsweise wirkt Randalls Arm nicht wie Stahl oder Gummi oder Stein; er ist leicht gebeugt und sieht sanft und schlaff aus, einfach nur menschlich.
»Daddy!«, jammert Junior, aber er vergräbt sein Gesicht in Randalls Hüfte, und die schluckt den letzten Teil des Wortes. Junior wird ein paar Zentimeter größer; vermutlich hat er sich auf die Zehenspitzen gestellt. Das Wasser reicht mir bis an die Waden.
»Seht doch«, sage ich.
Zwischen den Bäumen ist etwas langes Dunkelblaues zu sehen. Es ist ein Boot. Jemand ist gekommen, um uns zu retten. Aber dann kneife ich die Augen zusammen, und der Wind flaut ganz kurz ab und klärt die Luft, und da ist es kein Boot mehr, und niemand ist da, um uns zu retten. Es ist Daddys Pick-up. Das Wasser hat ihn mitgenommen, ihn vom Pit weggeschoben. Die Schlange ist zum Fressen und zum Spielen gekommen.
»Dein Wagen«, sagt Skeetah.
Daddy fängt an zu lachen.
Die Schlange hat den ganzen Hof verschlungen, und jetzt reißt sie unter dem Haus ihren Schlund auf.
»Mach die Dachluke auf«, sagt Daddy.
Das Wasser schlägt an meine Kniekehlen.
»Sie klemmt«, sagt Randall. Er zieht an der Schnur, die von der Lukentür herunterhängt, die sich in der Flurdecke befindet.
»Los«, sagt Skeetah.
Das Wasser steigt an meinen
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