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Vor dem Sturm (German Edition)

Vor dem Sturm (German Edition)

Titel: Vor dem Sturm (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesmyn Ward
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stramm gezogen wird und ihr Kopf ein nackter Schädel sein könnte.
    China jault plötzlich und fängt dann an zu bellen, springt auf Skeetahs Bett hin und her und über seine Knie; deshalb schaue ich aus meiner zusammengekauerten Haltung auf Randalls Bett hoch, von meinem Bauch, von meinem Versuch, mich in mir selbst zu verkriechen, um in Sicherheit zu sein. China schaut zur Decke, ihre Zähne schimmern im Dunkeln, sie bellt gellend.
    »China, was ist …?« Skeetah streckt die Hand aus, um sie zu packen, sie vom hektischen Herumwirbeln und Rennen abzuhalten, und dann gibt es einen lauten, ohrenbetäubenden Knall. Als er ertönt, springt China mit einem Satz von Skeetahs Bett und rast zur Tür, als wolle sie das Holz mit ihren Zähnen zersplittern. Skeetah reißt die Tür auf, und Randall rennt mit einer Lampe in Daddys Zimmer, während Junior sich an seine Taille klammert und der Wind draußen brüllt und das Haus bebt. Die Lampe wäre nicht nötig gewesen; Daddys Zimmerdecke hat ein Loch,und in der Öffnung wogen die Äste eines Baumes. Ein riesiger Busch, der falsch herum wächst. China bellt und steckt die Nase in den Wind.
    »Daddy!« Randall rennt in den Wind und den Regen, der durch das klaffende Loch hereinströmt. Der graue Tag boxt sich hindurch. Daddy hockt auf Knien vor der Kommode und schiebt sich einen Briefumschlag in die Hose. Dann steht er auf und sieht uns.
    »Ab mit euch!«, sagt Daddy. Er gestikuliert, und der Verband an seiner verletzten Hand blitzt weiß auf. Beim Aufstehen wirkt Daddy schlapp, aber dann strafft er sich plötzlich wie eine Wäscheleine im Wind, schiebt uns aus dem zerstörten Zimmer auf den Flur hinaus und zieht die Tür hinter sich zu. Junior lässt Randall nicht mehr los.
    »Wir bleiben im Wohnzimmer.« Daddy sagt das, während er sich aufs Sofa fallen lässt, seinen Kopf nach hinten in die Kissen drückt, wie Mama ihren ins Kopfkissen gedrückt hat, und dabei seinen Hals entblößt. Er blinzelt zu viel.
    »Deine Hand«, sagt Randall.
    »Der geht’s gut«, sagt Daddy. »Wir bleiben hier, bis der Sturm vorbei ist.«
    »Wann, glaubst du?«, fragt Skeetah.
    »In ein paar Stunden.«
    China quiekt und bellt erneut.
    »Sie hat es gewusst«, sage ich.
    »Was gewusst?« Daddys Gesicht ist feucht, und ich weiß nicht, ob es Wasser oder Schweiß ist.
    »Nichts«, sagt Skeetah.
    »Das mit dem Baum«, sage ich gleichzeitig. Skeetah reibt China den Nacken, und sie lässt ein unterdrücktes Knurren hören, setzt sich, legt den Kopf an Skeetahs Oberschenkel und Hüfte und wendet ihm das Gesicht zu.
    »Gar nichts hat sie gewusst«, sagt Skeetah, und dann gehen sie wie ein einziges Wesen, ein neues Tier, auf den Durchgang zum Flur zu, wo der Wind in einer dünnen Schicht unter Daddys Tür hindurchpfeift. Sie gehen wieder in Skeetahs und Randalls Zimmer.
    »Komm ins Wohnzimmer, Skeet«, sagt Daddy. Er rollt die Augen und schließt die Lider. Entblößt die Zähne. »Bitte.«
    Ich nehme meine Decken, wickele mich darin ein und setze mich an den Platz, auf dem ich vorher gelegen hatte. Skeetah kommt mit China zurück, stellt den Eimer und Chinas Fressen, ihre Leinen und Spielsachen in die Ecke des Wohnzimmers, die am weitesten von Daddy entfernt ist, neben dem Fernseher. Skeetah drapiert seine Decke in die Ecke wie einen Sessel, und China nimmt auf seinem Schoß Platz. Lang gestreckt und weiß liegt sie da, legt den Kopf auf eine Pfote und fängt an, sich die rosigen Polster unter ihren Fußsohlen zu lecken. Skeetah tätschelt sie, stellt seine kleine Petroleumlampe ab, und im Halbdunkel glänzt China in deren Lichtschein buttergelb.
    »Junior«, ruft Randall, »ich weiß, dass du dir nicht in die Hose gemacht hast.«
    Junior beugt sich vor, berührt den Boden unter seinem Po und steckt den Kopf zwischen die Beine.
    »Hab ich auch nicht.«
    »Und wieso ist dann hier alles nass?«
    Wir sitzen verängstigt und gelangweilt im Wohnzimmer. Ich versuche, im Licht der Petroleumlampe zu lesen, aber der Klang der Worte kommt nicht an gegen das Geräusch des Windes und des Regens, der unerbittlich auf das Haus niedergeht; sie bleiben Fragmente. Jason hat wieder geheiratet, und Medea klagt.
Verbannt, o Zeus. Ich bin allein
. Und dann:
Der Tod, o der Tod soll unseren Streit entscheiden. Des Lebens kleine Tage enden nun.
Ichschlage das Buch zu, ohne die Seite zu markieren, und setze mich darauf. Mir ist kalt. Skeetah und China sehen aus, als wären sie eingeschlafen, seine Hand liegt auf ihrer Flanke und

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