Vor dem Sturm (German Edition)
und hangelt sich mit der anderen an dem Ast abwärts, bis er ins Wasser eintaucht. Dann stößt er sich ab und greift nach dem nächsten schaukelnden Ast. Er springt und greift zu. Ich schultere meinen Eimer und suche mir einen Weg zum Rand. Der Wind drückt mich platt an das Dach. Randall springt und landet mit dem Bauch zuerst auf dem gleichen nahen Ast. Seine Arme sind jetzt wieder aus Stahl; er hält Junior ganz fest. Skeetah und Randall krabbeln beide mit einem Arm und beiden Beinen an den halb kahlen Ästen der Eiche entlang, benutzen ihre Glieder, um sich und ihre Last weiterzuziehen, bis sie Wasser erreichen. Dann stoßen sie mit den Füßen, schießen in die Höhe und ergreifen den nächsten federndenAst. Randall hält inne, stützt sich auf seinem Ast ab und schaut zurück.
»Los, komm!«, brüllt er.
Ich hocke am Rand des Dachs, kralle mich mit Zehen und Fingern am Blech fest. Rücke den Eimer zurecht. Mein Herz ist ein verwundeter Vogel, der mit den Flügeln gegen meinen Brustkorb schlägt. Ich habe das Gefühl, keine Luft zu kriegen.
»Spring«, sagt Daddy.
Ich beuge mich vor und springe.
Der Hurrikan schließt mich in die Arme. Ich schwebe. Ich lande auf dem dicksten Ast, das Holz zerfurcht mich, der Eimer klappert, ich kann kaum atmen, meine Augen scheinen zu bersten. Ich kralle mich am Holz fest und krabbele an dem Ast entlang. Meine Füße tauchen immer wieder ins Wasser ein, der Stahlbügel des Eimers gräbt sich in meine Schulter, so schwer ist meine lebendige Last bereits. Das Gerippe von Mother Lizbeths Haus ist so weit weg; ich weiß nicht, ob ich sie bis dahin tragen kann. Ich bewege mich zentimeterweise bis zum Ende des Astes, bis zu der Stelle, wo er ins Wasser eintaucht und sich mit dem Baumstamm verbindet. Ich packe mit Händen und Füßen zu. Springe. Greife nach dem nächsten Ast, wo Randall auf mich wartet. Die Äste, die wir uns schnappen, zittern, biegen sich im Wasser und in der Luft. Die dünneren Äste wackeln wie lose Wäscheleinen. Der Baum ist ein lebendes Tier, das gegen das Wasser kämpft und versucht, uns von seinem Rücken abzuwerfen.
Ich schaue mich um und sehe Daddy durch die Luft fliegen. Er trifft mit dem Oberkörper so hart auf den Ast, dass sein Körper zusammenklappt und sein Gesicht beinahe ins Wasser eintaucht. Er steht unter Schock; er hat sich selbst k.o. geschlagen. Er schaut hoch zu uns, blinzelt. Flüstert, aber wir hören es nicht, wir sehen es nur.
Weiter
.
Skeetah hat es bis zur Mitte des Baums geschafft, der jetztnoch wie eine Knospe aus dem Wasser ragt, und er schwimmt und schubst sich von Ast zu Ast. Wir folgen ihm durch die schaukelnden Zweige und das wogende Wasser. Durch Plastiktüten, die wie Vögel über die Wasseroberfläche gleiten. Durch die Wäscheleine, die wie ein Fischernetz zwischen den Ästen hängt. Durch unsere Kleider, die aus dem überfluteten Haus geschwemmt wurden. Durch das Sperrholz, das von den Fenstern gerissen wurde, zerstückelt von den Zähnen des Sturms. Durch den Regen, der wie ein Vorhang fällt, Daddys träge in den Fluten kreisenden Pick-up wäscht, und durch die Trümmer, bis wir uns auf dem letzten Ast versammeln, der am weitesten reicht, dem Haus unserer Großeltern am nächsten kommt. Wir umklammern einander und die schwankenden Äste. China trampelt gegen Skeetahs Brust, wirft den Kopf hin und her. Sie zuckt und ruckt, will von ihm weg, aber er hält sie mit einer weißgeknöchelten Hand umklammert. Der Eimer fühlt sich an, als reiße er die Haut an meiner Schulter auf, als würde ich drei ausgewachsene Hunde tragen und nicht drei Welpen. Während von unserem Haus aus kaum die Krone des Baumes sichtbar war, sind die Äste hier deutlich oberhalb der Flut. Das Wasser reicht bis zur Mitte des nächstgelegenen Fensters: das Haus muss auf einem kleinen Hügel gebaut worden sein, und wir haben es nie bemerkt.
»Ich schwimm hin und schlag die Scheibe ein. Dann kommt ihr rein«, sagt Skeetah.
»Beeil dich«, sagt Randall.
»Esch, du kommst mit!«, sagt Skeetah.
»Das is jetzt nicht so wichtig!«, brüllt Daddy.
»Es is nich wegen der Welpen!« Skeetah schielt zu mir her über.
»Sie ist zu klein!«, schimpft Daddy. Er greift mit seiner gesunden Hand nach meinem freien Ellbogen. Hält fest.
»Sie ist schwanger.« Skeetah zeigt auf mich.
Daddys Miene erstarrt, und er stößt mich weg.
Daddy hat es gesehen, in der Sekunde, ehe er mich wegstieß. Mein weites T-Shirt und meine Shorts liegen an wie eine zweite Haut,
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