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Vor dem Sturm (German Edition)

Vor dem Sturm (German Edition)

Titel: Vor dem Sturm (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesmyn Ward
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hindurch. Big Henry, wie es so seine Art ist, nimmt das Telefon mit zwei Fingern entgegen. Es ist blutgepunktet.
    »Jo, ein Unfall. Zwei Leute, und das Auto überschlagen gegen den Baum.« Big Henry wiederholt die Ortsangaben. »Dies ist das Telefon des Mannes, aber die Frau, die liegt bloß da.« Er schweigt. »Okay. Ja, gut. Mach ich.« Er blickt in seinen Schoß, murmelt »Danke«. Die Frau auf dem Boden sieht immer noch aus, als schliefe sie: den Kopf auf ihrem Bizeps, die Hände geöffnet, als hätte sie gerade etwas losgelassen, auf der Seite liegend.
    »Was sagen die?«, frage ich.
    »Sie wolln, dass wir hier bei denen bleiben, bis sie da sind. Sie brauchen ein paar Minuten.«
    »Ich muss nach Hause«, sagt Skeetah.
    Big Henry starrt Skeetah an und fährt den Wagen an den Straßenrand, um im hohen Gras zu parken. Ich habe fast Angst, dass er den Mann anfährt, der jetzt wieder schlapp im Graben steht; seine Fußspitzen berühren nicht mehr die Frau. Der Mann starrt in die Ferne, als würde er Big Henrys Auto, das nur Zentimeter entfernt an ihm vorbeirollt, gar nicht sehen.
    »Die Welpen. Sie kann sich noch nicht um sie kümmern.«
    Big Henry stellt den Motor ab. Ich umschlinge meinen Bauch.
    Der Schwangerschaftstest knistert. Big Henry zieht den Schlüssel raus und betrachtet das Telefon des Mannes, das er in seinen Schoß hat fallen lassen. Er macht die Tür auf, schwingt sich vom Sitz, schließt die Tür und geht auf den Mann zu.
    »Sie hat Hunger. Und sie stillt«, sagt Skeetah.
    In jeder einzelnen Geschichte der griechischen Mythologie kommt das vor: ein Mann, der hinter einer Frau her ist, oder eine Frau, die hinter einem Mann her ist. Nie gibt es ein Treffen in der Mitte. Nur ein Körper im Graben, und eine Person, die auf ihn zu oder von ihm weg geht. Big Henry kniet sich neben die Frau. Der Mann ist in die Hocke gegangen, sodass nur noch sein Kopf zu sehen ist, den er mit beiden Händen festhält. Ich glaube, ich höre ihn stöhnen. Big Henry kauert über der Frau wie ein am Boden sitzender Bussard am Straßenrand, plump und tollpatschig. Ich frage mich, was die Frau mit dem Haar in der Farbe einer goldenen Kondomverpackung wohl für den Mann ist.
    »Ich traue ihr nicht.« Skeetah sagt das erst, als Big Henry so weit weg ist, dass er es nicht hört, und so leise, dass ich glaube, er hat vergessen, dass ich auf dem Rücksitz sitze.
    »Was meinst du, sind sie Freunde oder Verwandte?« Ich setze mich anders hin, damit der Test nicht so kratzt, aber ich bewege mich nicht zu viel, damit er nicht aus dem Gummizug meiner Shorts herausrutscht. Skeetah gibt keine Antwort. Ich rüttle am Vordersitz.
    »Hm?«
    »Freunde oder Verwandte?« Ich schaue mich nach ihnen um und sehe, dass der Mann auf uns zukommt. Big Henry brüllt ihm etwas zu, aber es klingt, als würde er murmeln.
    »Liebespaar«, sagt er.
    »Wie meinst du das?«
    »Das weißt du genau«, sagt Skeetah.
    Ich hatte immer angenommen, dass ihm mehr als die Hälftevon dem, was auf dem Pit passierte, entging; es kam mir so vor, als hätte ich nie etwas anderes um ihn herum gesehen als Hunde; einmal mit zwölf brachte er einen Pitbull mit und erzählte mir, er hätte ihn aus irgendeinem Garten gestohlen. Gestreifte Hunde, kahle, weißrosa Hunde, dicke Hunde, Hunde, die so dünn waren, dass ihre Knochen aussahen wie ein Schwarm Fische, der unter ihrer Haut herumschnellte. Seine Stimme klang wie ein Bellen, sein Schritt wie das dumpfe Schlagen eines fleischigen Schwanzes. Wir haben einander verloren, ein bisschen. Und jetzt frage ich mich, was Skeetah gesehen hat, worauf er so achtet, wenn seine Hunde schlafen, wenn er gerade mal keinen Hund hat, denn vor China ist jeder seiner Hunde gestorben, ehe er ein Jahr alt wurde. Jedes Mal hat Skeetah eine Woche gewartet und sich dann einen neuen besorgt. Vor China hat er sich nie die Mühe gemacht, Hundefutter zu kaufen, sondern hat ihnen eine Mischung aus Essensresten und Daddys Hühnerfutter gegeben. Was weiß er von Liebespaaren? Er ist der Sonderling, der, der immer nach verschwitztem Fell riecht, wenn die Jungs sich treffen, der, von dem die Mädchen vermutlich finden, dass er stinkt. Aber sogar ich weiß, dass es eine gibt, immer eine gibt, die genau den Jungen mag, der wie Skeetah ist. Es gibt immer eine für jeden. Aber ich glaube nicht, dass er das auch glaubt. Eine feuchte Hand klatscht an die Tür, und der Mann steht da. Seine Finger ziehen eine rote Spur hinter sich her wie eine Angelschnur. Er kneift die

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