Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vor dem Sturm (German Edition)

Vor dem Sturm (German Edition)

Titel: Vor dem Sturm (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesmyn Ward
Vom Netzwerk:
als würde ich die Farbe abreiben. Ich sitze auf meinen Händen; ich vermeide es, meinen Bauch anzuschauen, der in dieser Haltung flach wirkt, ähnlich wie der Mann sich geweigert hat, die Frau anzuschauen, die zu seinen Füßen lag, die im hohen Gras schlief.
    Farbe zieht sich wie ein Regenvorhang über das Stäbchen. Sekunden später erscheinen zwei Striche, in jedem Kästchen einer. Dürre Zwillinge. Ich schaue das Stäbchen an, erinnere mich an das, was auf der Schachtel im Laden gestanden hat. Zwei Striche bedeutet, Sie sind schwanger. Sie sind schwanger. Ich bin schwanger. Ich richte mich auf und umschlinge meine Knie, reibe meine Augen an meinen Kniescheiben. Die schreckliche Wahrheit über das, was ich bin, flammt wie ein trockenes Herbstfeuer, das alle abgefallenen Kiefernnadeln verschlingt, in meinem Bauch auf. Da ist etwas.

Der dritte Tag
    ÜBELKEIT IM SAND
    L ETZTE N ACHT döste ich immer wieder ein, wachte aber alle paar Minuten wieder auf und wünschte, ich könnte schlafen, könnte einfach die Augen schließen und in das dunkle Nichts des Schlummers eintauchen. Immer wenn ich eindöste, war die Wahrheit meiner Schwangerschaft zur Stelle, um mich mit einem Fußtritt wachzurütteln. Um sieben wachte ich mit brennender Kehle und nassem Gesicht auf.
    Was es bisher bedeutet, schwanger zu sein, ist dies: Erbrechen. Übelkeit von dem Moment an, in dem ich die Augen öffne, die ungleichmäßig verputzte Zimmerdecke sehe und mir einfällt, wer ich bin, was ich bin. Ich drehe den Wasserhahn auf, damit keiner hört, wie ich mich übergebe. Ich drehe ihn wieder zu und schließe das Bad ab. Lege mich auf den Boden. Lege den Kopf auf meinen Arm; die Fliesen haben die Temperatur von Wasser, das die ganze Nacht auf der Anrichte gestanden hat, und ich starre den Klosockel an, an dem eine teigige Staubschicht klebt, die wie Louisianamoos aussieht. Ich liege dort so lange, dass man meinen könnte, ich schlafe. Ich liege dort so lange, dass mein Haar, als ich den Kopf von meinem Arm nehme, eine unleserliche Schreibschrift in meine Haut gedruckt hat. Der Boden neigt sich wie der Boden eines dunklen Schiffs.
    »Esch!«, schreit Junior und rüttelt am Türknauf, pocht an die Tür und stürmt dann zur Hintertür, um von der Treppe aus in den Hof zu pinkeln.
    »Esch?«, ruft Randall.
    »Ich rasiere mir die Beine!« Das habe ich zu den Fliesen gesagt, mit heiserer Stimme.
    »Rasieren? Ich bin zu alt, um es wie Junior zu machen.«
    »Bin gleich fertig.« Ich beuge mich über das Waschbecken und trinke, bis ich nicht mehr das Gefühl habe, mich übergeben zu müssen. Selbst nachdem ich das Wasser abgestellt habe, schlucke ich noch. Meine Zunge fühlt sich an, als wurde sie in ungekochter Maisgrütze gewälzt, aber ich schlucke weiter. Ich wiederhole,
Ich werde mich nicht übergeben, ich werde mich nicht übergeben, auf keinen Fall
. Beim Hinausgehen orientiere ich mich an der Scheuerleiste.
    »Alles okay?« Randall steht mir im Weg.
    »Ich hab die Haare in der Wanne alle weggespült«, sage ich. »Keine Sorge.«
    Das Tuckern von Daddys Arbeitstraktor auf dem Hof ignoriere ich. Im Bett ziehe ich mir das dünne Laken über den Kopf, lege die Lippen auf die Knie und atme so heiß, dass es sich anfühlt, als lägen zwei Menschen wach unter dem Laken.
    Als ich zum zweiten Mal aufwache, ist die Luft heiß, und weil die Zimmerdecke so niedrig ist, kann die Hitze nicht nach oben steigen. Sie kann nirgends hin. Ich bin erstaunt, dass Daddy nicht inzwischen Junior geschickt hat, um mich aus dem Bett zu holen, damit ich bei den Vorbereitungen auf den Hurrikan helfe. Gestern spät am Abend haben er und Junior ein paar von den Ballonflaschen reingebracht und sie an der Wand entlang aufgestellt, während ich Thunfisch gemacht habe. Daddy hat immer wieder die Flaschen durchgezählt, als könne er sich die Zahl nicht merken, und dabei zu mir und Randall hinübergeschaut, als hätten wir vor, welche zu stehlen. Falls Randall ihm erzählt hat, dass ich krank bin, wird es ihm egal sein. Vielleicht sind sie alle woanders: Junior unter dem Haus, Randall beim Ballspielen, Skeet imSchuppen bei China und ihren Welpen. Mein Magen grummelt und grollt, darum ziehe ich mein Buch aus der Ecke meines Bettes, wo es zwischen Wand und Matratze eingeklemmt ist. Im
Buch der klassischen Mythen
bin ich immer noch bei der Geschichte von Medea und der Suche nach dem Goldenen Vlies. Da geht es um eine Person, die ich verstehe. Als Medea sich in Jason verliebt,

Weitere Kostenlose Bücher