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Vor dem Sturm (German Edition)

Vor dem Sturm (German Edition)

Titel: Vor dem Sturm (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesmyn Ward
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gerannt, Hand in Hand, weg von der Feste ihres Vaters, um zu den Argonauten zu stoßen? Fühlte sich jeder Schritt so an wie der hüpfende Lauf eines Vogels, der gleich losfliegt? Als wir den Rand der Lichtung erreichen, lässt er meine Hand los. Ich sinke auf die Knie, beuge mich vor und vergrabe mein Gesicht in dem Nadelteppich; ich atme den getrockneten Saft des Laubs ein und spüre, wie mir überall der Schweiß herunterrinnt. Ich muss pinkeln; ich fühle eine nasse Schwere, die mich an das Baby denken lässt. Ich suche mir einen Busch. Als ich zurückkomme, hat Skeetah sein T-Shirt in der Hand und lässt die Rasierklinge auf seinen narbigen Fingerknöcheln tanzen. Er wischt sich den blassen Kopf ab, trocknet den stechenden Schweiß. Ich will meinen Bauch nicht entblößen, deshalb wische ich mir nicht mit dem Saum meines schweren T-Shirts das Gesicht ab. Hinter dem Stacheldraht und den dösenden Kühen stehen das Haus und die Scheune. Aus der Entfernung wirken sie klein. Das Haus muss im Laufe der Jahre erweitert worden sein, denn es ist unsymmetrisch: An einem Ende ist ein angebauter Schuppen, und mit dem geneigten Dach der vorderen Verandasieht es aus wie ein Boot mit Ruderern auf beiden Seiten. Wir sind da.
    »Du musst Wache stehen.«
    »Wo gehst du hin?«
    »Ich will sehen, ob ich in die Scheune komme. Siehst du das kleine Fenster da an der Seite? Das direkt über dem Anhänger da vorn?«
    »Jepp.«
    »Ich wette, sie schließen die Fenster nicht mal ab.«
    »Was willst du denn in einer Scheune?«
    »Sie haben da drinnen Entwurmungsmittel für Kühe. Das weiß ich.«
    »Du kannst deinen Hunden doch kein Kuhmittel geben.«
    »Und ob ich das kann. Rico hat davon gesprochen, als sein Hund und China sich gepaart ham. Er meinte, das ist das beste Wurmmittel für Hunde. Ihnen wird’n bisschen schlecht, aber die Würmer sind danach hin. Alle machen das so.«
    »Also willst du es klauen?«
    »Ich darf nich noch mehr verliern.«
    »Und wie soll ich dir Bescheid sagen, wenn einer kommt?«
    »Siehst du die Gruppe von Baumstümpfen da drüben? Die drei dicht beieinander fast in der Mitte der Wiese?«
    »Jepp.«
    »Da legst du dich hin, und wenn die Weißen kommen, dann pfeifst du. Und dann bleibst du unten und rennst los in den Wald.«
    »Und wenn sie dich erwischen?«
    »Bleib nich stehn«, sagt er und schaut mir in die Augen, den Kopf leicht nach unten gebeugt wie ein Hund an der Leine, der einem anderen gegenübersteht und zieht, bereit zum Kampf. »Hörst du? Bleib nich stehn.«
    Wir bahnen uns einen Weg um das Feld herum, umkreisen Haus und Scheune, kämpfen mit den zurückschnellenden Zweigen. Skeetah hat sein Hemd noch in der Hand, aber die Rasierklinge hat er im Mund. Er bewegt sich vorsichtig durch das Unterholz, faltet Zweige zusammen wie eine Hundeleine, hält sie ganz leicht, damit sie nicht brechen, und lässt sie dann mit zwei Fingern wieder los. Er hält sie für mich fest, aber trotzdem erwischt er mich mit mehreren, und die Zweige fühlen sich wie zurückschnellende Gummibänder an, wenn sie mich am Arm oder an der Stirn treffen. Ich stoße einen Laut aus.
    »Sorry«, sagt er und schaut sich kurz um.
    Ich zucke die Achseln, obwohl er das nicht sehen kann, weil er in Richtung Haus späht. Wir gehen langsam auf die Hausseite der Weide zu. Skeetah hält Ausschau nach Autos, nach Bewegung. Im Schatten des Hauses, auf der von der Scheune abgewandten Seite liegt ein junger Hund. Eine Promenadenmischung. Skeetah hält inne, lässt sich auf die Knie fallen. Er zieht sein T-Shirt an, leckt an einem Finger und hält ihn hoch. Sein Kopf ist zur Seite geneigt, ein Ohr nach oben, als lausche er den Bäumen, den Insekten, deren Summen an- und abschwillt. Ich zucke wieder die Achseln, diesmal mit erhobenen Händen.
    »Was machst du da?«, flüstere ich.
    »Ich checke, ob wir Gegenwind oder Rückenwind haben.«
    »Okay, Krokodilfänger.« Ich dachte, er würde lachen, aber er grinst nicht mal. Er leckt zwei weitere Finger an und hält sie hoch. »Du weißt, dass er tot ist, stimmt’s?«
    »Sei still, Esch.« Skeetah ist ganz ruhig, wischt sich die Hände an seiner Hose ab. »Das muss der Hund sein, den wir beim ersten Mal gehört haben.«
    Er leckt an seinem Finger und hält ihn wieder hoch, lässt ihn aber bald sinken. »Schwer zu sagen.«
    Wir stehen mitten in einem Brombeergebüsch. DieStacheldrahtranken legen sich um meine Knöchel, befingern ein Schienbein, ziehen mir kurz gesagt blutige Kratzer in die Haut, lang

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