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Vor dem Sturm (German Edition)

Vor dem Sturm (German Edition)

Titel: Vor dem Sturm (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesmyn Ward
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er.
    Die Binde ist eine von Randalls; er hat sie vermutlich für sein Knie benutzt, das er so strapaziert hat, dass sein Trainer meinte, es müsse demnächst operiert werden. Die Schule bezahlt dafür, aber Randall verschiebt es immer wieder, weil er keine Spielzeit verlieren will. Nach den Spielen schwillt sein Knie immer an wie ein Luftballon.
    »Ich hab sofort gepfiffen, als ich sie gesehen hab.«
    »Ich weiß.« Skeetah hält die Bandage mit einer Hand fest und versucht, sie mit der anderen um seinen Oberkörper zu wickeln. Die Wunden sind grimmig; vier tiefe Furchen ziehen sich über seinen Bauch und seine Seite. Er schafft es nicht.
    »Lass mich mal«, sage ich und nehme das eine Ende. Skeetah lässt es los. Die Farbe seines Kopfes gleicht inzwischen mehr dem Rest seines Körpers. Als ich gestern Abend einschlief, war er bei China im Schuppen, hat ihren Fußboden gelegt und sie neu eingerichtet. Der Zwinger besteht immer noch aus drei nicht ganz rechtwinklig zusammengezimmerten Holzplatten, die in der Erde stecken. »Hast du was draufgetan?«
    »Hab nur geduscht.« Skeetah murmelt die Wörter in seinen Unterarm. »Dann hab ich ein bisschen Superoxyd drüber geschüttet, aus Chinas Flasche.« Das macht er auch immer bei ihr nach einem Kampf, er wäscht ihre Wunden mit einem Tuch aus, das er gewaschen, gebleicht und in Wasserstoffsuperoxyd getaucht hat. Sie lächelt dabei träge, wie eine Frau in einem neuen Festtagskleid am Nationalfeiertag, der man ein Kompliment macht.
    »Is die sauber?« Die Bandage sieht schmutzig aus, verschlissen.
    »Hab ich gestern Abend gewaschen und gebleicht«, sagt Skeetah seufzend. Ich wickele die Binde einmal rum und rechne damit, dass er unter der Berührung des Stoffes zusammenzuckt, aber das tut er nicht. Ausnahmsweise riecht er mal nicht nach Hund. Er riecht wie der ständige Wind, der die Flut in den Golf von Mexiko treibt, aber nicht die Flut am Strand. Die Flut in der Bay of Angels, die nach den frisch aus dem Schlamm gespülten Austern riecht. Daddy ist dort manchmal mit uns schwimmen gegangen, als wir kleiner waren, in einer kleinen Bucht. Das Wasser war dort trüber als im Fluss, und kälter, und der Boden war die reinste Austernschalenlandschaft. Wir gruben Austern aus und warfen sie nach draußen aufs Meer hinaus, weiter weg von der Bucht. Sumpfgras wiegte sich an den Rändern im Wind, und Kiefern beugten ihre Kronen über das Wasser. Pelikane glitten in Reihen vorbei. Daddy angelte auf einem halb versunkenen Steg, manchmal auch mit ein paar Freunden vom Rand eines der Stützpfeiler unter der Brücke aus, und meistens war am Ende seine Kühlbox mit Bier leer und er hatte ein oder zwei Umbern gefangen, die im eiskalten Wasser herumschnappten. Seine Freunde fingen fünfzehnpfündige Rotbarsche, die sie mit aller Kraft aus dem Wasser ziehen mussten. Am Abend rief Daddy uns laut, mehr betrunken als wütend, während die untergehende Sonne hinter uns über den Himmel zog wie ein Kreisel. Unsere Füße waren immer mit Schnitten übersät.
    »Fester«, sagt Skeetah.
    Mama kam ab und zu mit zum Schwimmen in die Bucht. Sie lief um Daddy und seine Freunde herum oder saß in einem ausgeleierten Gartenstuhl aus Aluminium und Plastik, den Daddy auf dem Pit gefunden hatte. Manchmal lachte sie über die Witze der Männer, aber sie trank kein Bier. Meistens saß sie einfach mit einer Angel zwischen den Beinen da. Sie war es, die das Haifischbabygefangen hat; es hatte die gleiche Farbe wie das Wasser, war so lang wie ihr Arm und stark. Daddy wollte ihr die Angel aus der Hand nehmen, aber sie ließ ihn nicht. Seine Freunde lachten, versuchten auch, sie ihr abzunehmen, aber sie hielt sie mit beiden Händen fest und ging mit dem Hai an der Angel auf dem mit Austernschalen übersäten Sand auf und ab, durch das stehende Sumpfgras, unter der Brücke hindurch und wieder zurück. Sie lief, bis er müde wurde; ihre Arme waren dick und rund, stark unter dem Frauenfett. Sie trickste ihn aus bis zum Tod. Und als er aufgab, zog sie ihn an Land und stieß ein Lachen aus, das mit den aufstiebenden Pelikanen hoch in den Himmel und davon flog, ebenso windsicher und breit wie die Flügel der Vögel. Am Abend dünstete sie ihn in Butter, legte ihn vorher in Buttermilch ein, um das Wilde aus dem Fleisch herauszuziehen. Als wir ihn aßen, war er zart, schmeckte nach Meersalz und hatte keine Gräten.
    »Bald fertig?« Skeetah beobachtet meine Hände. Ich frage mich, ob er die Wunden unter dem Verband schon

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