Vor dem Sturm (German Edition)
Mülleimer. Ich stelle ihn ihm vor die Nase, direkt neben das Bett. Im Eimer liegt Bonbonpapier und zusammengefaltetes Toilettenpapier, aber er ist fast leer. Randall schaltet Daddys Nachttischlampe an und liest die Aufschrift auf den Fläschchen, um festzustellen, welches das Schmerzmittel ist. Er ist groß und dunkel, jeder Zentimeter von ihm ist mit Muskeln bepackt, und manchmal frage ich mich, ob Daddy wohl darüber staunt, wie diese Riesenmaschine von einem Jungen aus ihm und Mama entstanden ist. Manchmal frage ich mich, ob er über Randall staunt. Und dann sehe ich Manny, der auf der Lichtung fast so hell strahlte wie China, und frage mich, was wohl bei der Mischungaus ihm und mir herauskommen wird: etwas goldenes Breitschultriges wie er oder etwas schwarzes Kleines wie ich, oder etwas, das mehr ist als jeder von uns. Einmal ist Daddy zu einem von Randalls Spielen gekommen und die ganze Zeit an der Tür der Sporthalle stehen geblieben, hat mit der Baseballkappe in der Hand vor sich hin genickt, mit gerunzelter Stirn auf das Spielfeld geschaut und dem Spiel halb abwesend zugesehen. Er ist noch vor der Halbzeit gegangen.
»Daddy, hier steht, du hättest zu diesen Antibiotika keinen Alkohol trinken dürfen. Mit den Schmerzpillen auch nicht.«
Daddy schüttelt den Kopf und liegt still.
»Bier ist nichts«, krächzt er ins Kopfkissen. »Is doch fast wie Limo.«
»Vermutlich musst du dich deshalb übergeben.«
»Ich kann nicht einfach liegen bleiben.« Daddys gute Hand zittert. »Muss das Haus fertig machen.«
»Esch, hol ein Glas Wasser.« Randall greift nach einer Bierdose, zerquetscht sie mit seinen langen Fingern, die sich wie Spinnenbeine um sie schließen. »Und nimm die hier mit.«
Ich lade die Bierdosen in mein T-Shirt. Daddy murmelt etwas. Als ich mit dem Wasser wiederkomme, reicht Randall gerade Daddy die Tabletten, und Daddy hat sich immerhin auf einen Ellbogen gestützt, auch wenn sein Kopf noch seitlich an der Kopfleiste klebt. Er stürzt das Wasser und die Tabletten hinunter, als würde das schnelle Einnehmen verhindern, dass sie später wieder hochkommen.
»Der Hurrikan«, sagt Daddy.
»Du sagst uns, was wir tun sollen«, sagt Randall und bittet mich, Daddy zwei Scheiben Brot für seinen Magen zu bringen und sie auf den Nachttisch zu legen.
Aus der Brise ist heute ein Wind geworden, der stärker und heftiger als gestern durch den Wald und über die Lichtung bläst. Ich taste in der Metallkiste hinten auf Daddys Pick-up nach einer Taschenlampe, einem Hammer und einem Bohrer. Die Nägel liegen alle unten auf dem Boden der Kiste, wie die Federn und das Stroh in einem Hühnerstall.
Zuerst die Fenster
, hat Daddy gesagt.
Ihr müsst alle Fenster vernageln.
Die Nägel herauszusuchen dauert lange; ich steche mir in den Finger und lutsche daran, aber es kommt kein Blut, es tut nur weh. Ich frage mich, ob sich Chinas zerbissene Brust im Maul ihres Welpen wohl so ähnlich anfühlen wird, wenn sie geheilt ist: hart, ein verheilter Schmerz.
Skeetah kommt aus dem Schuppen und schiebt das dünne Blech, das er neuerdings als Tür benutzt, wieder an seinen Platz. Er dreht den Wasserhahn auf, beugt sich hinunter und trinkt, lässt dann das Wasser über seinen Kopf laufen. Als er zu mir herüberkommt, rinnt ihm das Wasser wie Perlen am Hals hinunter und bis über die Schlüsselbeine, und ich muss an Kilos roten Schal denken.
»Was macht ihr alle in Daddys Wagen?«
»Er is krank«, sagte ich.
Randall lehnt halb im Wagen, halb draußen, um das Radio auf den schwarzen Sender einzustellen. Seine Beine sind so lang, dass er mit dem ganzen Fuß auf der harten Erde vor der Beifahrertür steht. Er brüllt gegen die Windschutzscheibe, damit Skeetah ihn hört. »Wir sollen das Haus für den Hurrikan bereit machen.«
»Er sagt, zuerst die Bretter«, erkläre ich Skeetah. Er trägt kein T-Shirt, und sein Gürtel ist so eng um seine Shorts geschnürt, dass der Hosenbund daran herunterhängt wie ein Duschvorhang und das Leder ihm in die Haut schneidet. Es sind dieselben Shorts, die er gestern getragen hat. Ich hatte recht, er hat bei China im Schuppen geschlafen.
»Ich kann nicht«, sagt Skeetah. »Ich muss China noch mal waschenund ihre Wunden behandeln. Damit sie nicht schlimmer werden.«
»Wie lang wird das dauern? Fünfzehn, dreißig Minuten?« Randall lehnt sich jetzt aus dem Wagen heraus, die Musik wird hinter ihm wieder lauter. Sie klingt schwach und metallisch, weil Daddy im Pick-up keine Bässe hat. Der Song
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