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Vor dem Sturm

Vor dem Sturm

Titel: Vor dem Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Theodor Fontane
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geschickt, daß Tubal einen Augenblick über seine wirkliche Lage getäuscht wurde.
    Aber nicht auf lange. Denn in der Tat, es ging rasch zu Ende, rascher noch, als der alte Doktor erwartet hatte. Um acht kam Seidentopf, und die Schorlemmer ging jetzt nach oben, um den Kranken zu fragen, ob er den »alten Freund des Hauses« vielleicht noch sprechen wolle; sie wollte nicht sagen: »den Geistlichen«.
    Tubal lächelte und verneinte, trotzdem er ein Trostbedürfnis und eine rechte Sehnsucht nach Erhebung fühlte; aber er empfand auch, daß Seidentopf ihm nicht geben könne, wonach er verlangte.
    Eine halbe Stunde später stellten sich Phantasien ein: er sprach von der Muttergottes, die das Jesuskindlein habe fallen lassen; dann bat er, daß sie mit dem Trommeln und Blasen aufhören möchten, und zuletzt richtete er sich auf und sagte: »Nein, nein, das soll nicht sein; Hektor, das treue Tier.«
    Aber plötzlich war es, als würd er wieder klar; er verlangte zu trinken, und gleich darauf bat er die Schorlemmer, ihm Renate zu rufen.
    »Und den Doktor?«
    »Nein, den nicht. Er lügt mit jedem Wort, und seine Tropfen lügen auch. Ich will von beiden nicht mehr. Renate soll kommen.« Und Renate kam.
    Als sie da war, war aus allem zu sehen, daß er mit ihr allein sein wollte, und die Schorlemmer verließ das Zimmer.
    »Setze dich zu mir, Renate«, sagte der Kranke. »Ich will Abschied von dir nehmen.«
    Sie brach in krampfhaftes Weinen aus, warf sich auf die Knie und barg ihr Haupt in die Kissen.
    »Nicht doch; mach es mir nicht so schwer. Ach, du weißt nicht,
wie
schwer. Und du sollst es auch nicht wissen. Nie, ich hoffe, nie... Ach, Renate, das Scheiden ist doch bitterer, als ich dachte, und nur eines ist, das mich tröstet: es war nichts Rechtes mit mir, und ich hätte dich nicht glücklich gemacht.«
    Sie wollte antworten, aber er fuhr abwehrend fort: »Sage nichts, sage nicht nein. Ich weiß es besser. Denn was gibt Glück uns und andern? Fest sein und stetig sein, stetig sein im Guten. Und wir waren immer unstet, alle, alle. Auch mein Vater war es. Land, Glauben, Freunde gab er hin. Und warum? Einem Einfall zuliebe. Und wir haben nichts Gutes davon gehabt.«
    »Verklage dich nicht, mein Geliebter. Ach, Tubal, um was stirbst du jetzt? Um Lieb und Treue willen. Ja, ja. Erst galt es Lewin, und dann, als er gerettet war, da dauerte dich die arme Kreatur, die verlassen dalag und vor Schmerz und Jammer aufwinselte, und du stirbst nun, weil du dich des treuen Tieres erbarmtest.«
    »Ja, Mitleid hatt ich! Das hatt ich immer, Mitleid und Erbarmen. Und vielleicht auch, daß meiner ein Erbarmen harrt, um meines Erbarmens willen. Ich kann es brauchen; jeder kann es. Und in der letzten Stunde tut es wohl, etwas von diesem Ankergrund zu haben... Ich entsinne mich eines langen Liedes, das ich in der Predigerstunde bei dem alten Oberkonsistorialrat lernen mußte; ich hatte keinen Sinn dafür, aber eine Strophe gefiel mir, die war schön.«
    »Welche? Sprich sie, oder willst du, daß ich sie spreche?«
    »Es war etwas von Tod und Sterben und von Christi Beistand in der Scheidestunde.«
    Renate hatte seine Hand genommen und sprach jetzt, ohne weiter zu fragen, mit leiser, aber fester Stimme vor sich hin:
     
    »Wenn ich einmal soll scheiden,
    So scheide nicht von mir,
    Soll ich den Tod erleiden,
    Tritt
du
für mich herfür;
    Wenn mir am allerbängsten
    Wird um das Herze sein,
    Reiß mich aus meinen Ängsten
    Kraft deiner Angst und Pein.«
     
    Tubal hatte sich aufgerichtet.
    »Ja, das ist es.«
    Er schien noch weitersprechen zu wollen, sank aber, immer matter werdend, in die Kissen zurück und begann unruhig und hastig, wie die Sterbenden tun, an seiner Bettdecke herumzuzupfen. Dabei war es, als ob er in seiner Erinnerung nach etwas suche.
    Endlich hatte er es und fuhr in abgerissenen Sätzen fort: »Es war noch früher, viel früher, und wir waren noch in der alten Kirche, da sagte mir der Kaplan ein lateinisches Lied vor. Und als Ostern herankam, da mußt ich es hersagen vor meinem Vater und vor meiner Mutter und vor Graf Miekusch. Und meine Mutter lachte, weil sie das Lateinische nicht verstand. Aber mein Vater war ernst geworden und Graf Miekusch auch.«
    Er schwieg eine Weile, und Renate sah bang auf ihn.
    »Das ist nun zwanzig Jahre«, fuhr er fort, »oder noch länger, und ich hatt es vergessen. Aber nun hab ich es wieder:
     
    Salve caput cruentatum
    Totum spinis coronatum
    Conquassatum, vulneratum
    Facie sputis

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