Vor der Flagge des Vaterlands
nähere mich also Thomas Roch, der mich nicht kom-
men sieht, und jetzt steh’ ich an seiner Seite.
Thomas Roch sieht nicht aus, als ob er mich erkennte,
und rührt sich nicht von der Stelle.
Seine lebhaft, fast unheimlich glänzenden Augen blicken
fortgesetzt hinaus in die Ferne. Glücklich, diese belebende,
von Salzverdunstung geschwängerte Atmosphäre zu atmen,
dehnt sich seine Brust in langen Zügen. Zu dieser an Sauer-
stoff überreichen Luft kommt noch das Licht einer präch-
tigen Sonne von wolkenlosem Himmel, in deren Strahlen
sich alles rings umher badet. Ob er sich wohl über die plötz-
liche Veränderung seiner Lage klarzuwerden versucht? . . .
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Sollte er sich an Healthful House, an den Pavillon, den er
halb als Gefangener bewohnte, und an seinen Pfleger Gay-
don schon nicht mehr erinnern? . . . Das ist höchst wahr-
scheinlich. Die Vergangenheit ist in seiner Erinnerung aus-
gelöscht, er lebt nur in der Gegenwart.
Meiner Ansicht nach ist Thomas Roch jedoch auch hier
an Bord der ›Ebba‹, inmitten des unendlichen Weltmeers,
noch immer derselbe, noch ebenso unberührt von allem,
wie ich ihn 15 Monate lang gepflegt und gesehen habe. Sein
Geisteszustand hat sich nicht verändert, und die Vernunft
leuchtet nur ein wenig in ihm auf, wenn die Rede auf seine
Entdeckungen kommt. Graf d’Artigas kennt diese Verhält-
nisse, die er bei seinem Besuch in Healthful House ja durch-
schauen mußte, und darauf gründet er unzweifelhaft seine
Hoffnung, früher oder später hinter das Geheimnis des Er-
finders zu kommen.
»Thomas Roch?« rede ich ihn an.
Meine Stimme erregt ihn, und nachdem er mich einen
Augenblick angestarrt hat, schweifen seine Blicke wieder
hinaus ins Weite.
Ich ergreife seine Hand und drücke sie leise, er entzieht
sie mir aber mit heftiger Bewegung, geht weg, ohne mich
erkannt zu haben, und begibt sich nach dem Heck der Goé-
lette, wo Kapitän Spade noch mit Ingenieur Serkö steht.
Hätte er gar die Absicht, sich an einen dieser Männer zu
wenden, und wird er antworten, wenn sie auf ihn einspre-
chen? Mir gegenüber hat er es doch nicht getan . . .
In diesem Augenblick leuchten seine Züge wie von ei-
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nem Blitz erwachender Intelligenz heller auf; seine Auf-
merksamkeit ist – ich kann daran gar nicht zweifeln – von
der Fortbewegung der Goélette gefesselt.
Wirklich richten sich seine Blicke nach der Takelage der
›Ebba‹, deren Segel eingebunden sind und die doch schnell
durch das ruhige Wasser dahingleitet.
Thomas Roch schreitet wieder zurück, geht am Steuer-
bord hin und kommt nach der Stelle, wo sich ein Schorn-
stein erheben müßte, wenn die ›Ebba‹ eine Dampfyacht
wäre, ein Schornstein, dem dann gewiß schwarze Rauch-
wolken entströmten.
Was mir seltsam vorkam, erscheint Thomas Roch also
ebenfalls so. Er vermag sich nicht zu erklären, was auch ich
unerklärlich fand, und so wie ich es getan, begibt auch er
sich nach dem Achter, um zu sehen, wie die Schraube ar-
beitet.
An den Seiten der Goélette tummelt sich eine Schar von
Delphinen. So schnell die ›Ebba‹ auch fährt, wird es den
flinken Tieren nicht schwer, sie zu überholen, und sie spie-
len, schnellen sich in ihrem natürlichen Element auf und
überschlagen sich mit wunderbarer Gewandtheit.
Thomas Roch bemerkt sie freilich nicht und folgt ihnen
auch nicht mit den Augen, sondern beugt sich über die Re-
ling hinaus.
Sofort eilen Kapitän Spade und Ingenieur Serkö, in der
Befürchtung, daß er ins Meer fallen könnte, auf ihn zu, hal-
ten ihn mit starker Hand und ziehen ihn nach dem Verdeck
zurück.
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Ich bemerke übrigens – denn ich habe hierin lange Er-
fahrung – daß Thomas Roch verwundert und erregt ist. Er
dreht sich um sich selbst, fuchtelt mit den Händen in der
Luft herum und murmelt unverständliche Worte, die sich
an niemand richten, vor sich hin.
Es ist nur zu deutlich, daß ihm wieder ein Anfall droht,
ein Anfall, ähnlich dem, der ihn am letzten Abend in Health-
ful House heimgesucht hat, und dessen Folgen so schreck-
lich werden sollten. Man wird ihn ergreifen und in seine
Kabine hinunterschaffen müssen und wird mich dann ru-
fen, um ihm die spezielle Pflege angedeihen zu lassen, die
ich ihm gegenüber anzuwenden gewöhnt bin.
Inzwischen lassen ihn Kapitän Spade und Ingenieur
Serkö nicht aus dem Auge; wahrscheinlich wollen sie ihn
gewähren lassen, und so tut er denn
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