Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vor der Flagge des Vaterlands

Vor der Flagge des Vaterlands

Titel: Vor der Flagge des Vaterlands Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
Vom Netzwerk:
nähere mich also Thomas Roch, der mich nicht kom-
    men sieht, und jetzt steh’ ich an seiner Seite.
    Thomas Roch sieht nicht aus, als ob er mich erkennte,
    und rührt sich nicht von der Stelle.
    Seine lebhaft, fast unheimlich glänzenden Augen blicken
    fortgesetzt hinaus in die Ferne. Glücklich, diese belebende,
    von Salzverdunstung geschwängerte Atmosphäre zu atmen,
    dehnt sich seine Brust in langen Zügen. Zu dieser an Sauer-
    stoff überreichen Luft kommt noch das Licht einer präch-
    tigen Sonne von wolkenlosem Himmel, in deren Strahlen
    sich alles rings umher badet. Ob er sich wohl über die plötz-
    liche Veränderung seiner Lage klarzuwerden versucht? . . .
    — 112 —
    Sollte er sich an Healthful House, an den Pavillon, den er
    halb als Gefangener bewohnte, und an seinen Pfleger Gay-
    don schon nicht mehr erinnern? . . . Das ist höchst wahr-
    scheinlich. Die Vergangenheit ist in seiner Erinnerung aus-
    gelöscht, er lebt nur in der Gegenwart.
    Meiner Ansicht nach ist Thomas Roch jedoch auch hier
    an Bord der ›Ebba‹, inmitten des unendlichen Weltmeers,
    noch immer derselbe, noch ebenso unberührt von allem,
    wie ich ihn 15 Monate lang gepflegt und gesehen habe. Sein
    Geisteszustand hat sich nicht verändert, und die Vernunft
    leuchtet nur ein wenig in ihm auf, wenn die Rede auf seine
    Entdeckungen kommt. Graf d’Artigas kennt diese Verhält-
    nisse, die er bei seinem Besuch in Healthful House ja durch-
    schauen mußte, und darauf gründet er unzweifelhaft seine
    Hoffnung, früher oder später hinter das Geheimnis des Er-
    finders zu kommen.
    »Thomas Roch?« rede ich ihn an.
    Meine Stimme erregt ihn, und nachdem er mich einen
    Augenblick angestarrt hat, schweifen seine Blicke wieder
    hinaus ins Weite.
    Ich ergreife seine Hand und drücke sie leise, er entzieht
    sie mir aber mit heftiger Bewegung, geht weg, ohne mich
    erkannt zu haben, und begibt sich nach dem Heck der Goé-
    lette, wo Kapitän Spade noch mit Ingenieur Serkö steht.
    Hätte er gar die Absicht, sich an einen dieser Männer zu
    wenden, und wird er antworten, wenn sie auf ihn einspre-
    chen? Mir gegenüber hat er es doch nicht getan . . .
    In diesem Augenblick leuchten seine Züge wie von ei-
    — 113 —
    nem Blitz erwachender Intelligenz heller auf; seine Auf-
    merksamkeit ist – ich kann daran gar nicht zweifeln – von
    der Fortbewegung der Goélette gefesselt.
    Wirklich richten sich seine Blicke nach der Takelage der
    ›Ebba‹, deren Segel eingebunden sind und die doch schnell
    durch das ruhige Wasser dahingleitet.
    Thomas Roch schreitet wieder zurück, geht am Steuer-
    bord hin und kommt nach der Stelle, wo sich ein Schorn-
    stein erheben müßte, wenn die ›Ebba‹ eine Dampfyacht
    wäre, ein Schornstein, dem dann gewiß schwarze Rauch-
    wolken entströmten.
    Was mir seltsam vorkam, erscheint Thomas Roch also
    ebenfalls so. Er vermag sich nicht zu erklären, was auch ich
    unerklärlich fand, und so wie ich es getan, begibt auch er
    sich nach dem Achter, um zu sehen, wie die Schraube ar-
    beitet.
    An den Seiten der Goélette tummelt sich eine Schar von
    Delphinen. So schnell die ›Ebba‹ auch fährt, wird es den
    flinken Tieren nicht schwer, sie zu überholen, und sie spie-
    len, schnellen sich in ihrem natürlichen Element auf und
    überschlagen sich mit wunderbarer Gewandtheit.
    Thomas Roch bemerkt sie freilich nicht und folgt ihnen
    auch nicht mit den Augen, sondern beugt sich über die Re-
    ling hinaus.
    Sofort eilen Kapitän Spade und Ingenieur Serkö, in der
    Befürchtung, daß er ins Meer fallen könnte, auf ihn zu, hal-
    ten ihn mit starker Hand und ziehen ihn nach dem Verdeck
    zurück.
    — 114 —
    Ich bemerke übrigens – denn ich habe hierin lange Er-
    fahrung – daß Thomas Roch verwundert und erregt ist. Er
    dreht sich um sich selbst, fuchtelt mit den Händen in der
    Luft herum und murmelt unverständliche Worte, die sich
    an niemand richten, vor sich hin.
    Es ist nur zu deutlich, daß ihm wieder ein Anfall droht,
    ein Anfall, ähnlich dem, der ihn am letzten Abend in Health-
    ful House heimgesucht hat, und dessen Folgen so schreck-
    lich werden sollten. Man wird ihn ergreifen und in seine
    Kabine hinunterschaffen müssen und wird mich dann ru-
    fen, um ihm die spezielle Pflege angedeihen zu lassen, die
    ich ihm gegenüber anzuwenden gewöhnt bin.
    Inzwischen lassen ihn Kapitän Spade und Ingenieur
    Serkö nicht aus dem Auge; wahrscheinlich wollen sie ihn
    gewähren lassen, und so tut er denn

Weitere Kostenlose Bücher