Vor Jahr und Tag
Christbaumschmuck. Und Geschenkpapier. Und Bänder.
Ein derart ordentliches Weibsbild verdiente den Tod.
Er sah in die Schubladen. Unterwäsche, sauber zusammengefaltet und gestapelt. Schlafanzüge, Nachthemden. Socken. Nichts.
In einem Schrank hingen ein paar Kleider auf der einen Seite, Hosen und Jeans auf der anderen, dazwischen frisch gestärkte weiße Schwesterntrachten. Auf einer Uniform war bereits das Namensschildchen festgesteckt; die hatte sie wohl als nächstes anziehen wollen. Um den Kleiderbügel war ein Stethoskop geschlungen. Darunter standen bequeme weiße Lederschuhe mit dicken Sohlen.
In dem Regal über der Kleiderstange standen ein paar Schachteln. Hayes nahm die vorderste heraus. Auf dem Deckel stand: »Bankauszüge«.
Gott segne ihre ordentliche kleine Seele.
Hayes lachte in sich hinein und nahm den obersten Umschlag heraus. Ein Streifen aus einer Rechenmaschine war daran festgemacht worden, um zu zeigen, daß ihre Zahlen mit denen der Bank übereinstimmten. Er faltete die Zettel mit den Belegen der eingereichten Schecks auseinander und fuhr mit dem Finger jede Spalte entlang, bis er auf eine Zeile stieß, in der stand: »Buckeye Stockit and Lockit«. Auf dem Scheck stand: »Abteil 152, Juli«. Genau das hatte er wissen wollen.
Er steckte den Auszug zurück in den Umschlag, legte den Umschlag wieder in die Schachtel und stellte die Schachtel zurück aufs Regal. Alles, was er jetzt noch brauchte, waren sowohl Adresse als auch Telefonnummer der Firma. Die Lagerfirma war bestimmt in der Nähe, dessen war er sicher, denn etwas anderes wäre der ordentlichen Mrs. Whitlaw gewiß nicht in den Sinn gekommen.
Raymond Hilley wartete in seinem Wagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Wohnblocks, den Hayes betreten hatte. Er hatte den Motor abgeschaltet und war im Sitz heruntergerutscht. Obwohl es ihm gelungen war, einen halbwegs schattigen Parkplatz zu finden, herrschte eine lähmende Hitze. Er kurbelte die Fenster herunter, ließ den Motor jedoch nicht an; ein Auto mit laufendem Motor, in dem scheinbar niemand saß, würde auffallen. Er hatte schon viel länger und unter weit härteren Bedingungen gewartet, damals, als er noch für Mr. Walter gearbeitet hatte.
Mr. Stephen war nicht einmal halbwegs der Mann, der Mr. Walter gewesen war, ja nicht einmal der Mann, der William zu werden versprochen hatte, aber Raymond liebte ihn und würde alles für ihn tun, denn Mr. Stephen bemühte sich. Egal, um was es sich handelte, er drückte sich nie vor seinen Pflichten, und dafür respektierte ihn Raymond. Man brauchte sich doch bloß anzusehen, wie Mr.Stephen sich um seinen Vater kümmerte, wie er jeden Tag Zeit mit ihm verbrachte, dafür sorgte, daß es Mr. Walter so bequem wie nur möglich hatte. Es brach Raymond das Herz, Mr. Walter in einem solchen Zustand zu sehen, eine leere Hülle statt des energiegeladenen, dynamischen Mannes, der er einst war. Zumindest ehrte Mr. Stephen seinen Vater, statt ihn einfach irgendwo abzuladen und zu vergessen, einfach nur auf seinen Tod zu warten.
Aber Mr. Stephen hatte seinen Vater immer bewundert und sich so sehr bemüht, es ihm recht zu machen. Mr. Walter wußte das und hatte Geduld mit Mr. Stephens Schwächen; am Ende war er sogar stolz auf ihn gewesen. Mr. Stephen hatte zwar nicht die Welt entzündet, aber er hatte eine Menge erreicht, auf seine vorsichtige, methodische Weise.
Hayes bis Columbus zu folgen war geradezu lächerlich einfach gewesen. Die paar Mal, die Hayes auf dem Anwesen in Minnesota gewesen war, hatte Raymond immer sorgfältig darauf geachtet, unsichtbar zu bleiben. Er wußte genau, was seine Rolle im Haushalt war: Er war die Waffe, der Vollstrecker. Und eine Waffe war am wirkungsvollsten, wenn sie von niemandem erwartet wurde.
Er hatte sich einfach einen Platz in derselben Maschine wie Hayes gebucht - zwei Reihen hinter ihm, um genau zu sein. Senator Lake hatte den nächsten Flug genommen und dafür einen gefälschten Führerschein benutzt, den Raymond zuvor noch für ihn besorgt hatte. Er hatte dem Senator sogar eine Verkleidung verpaßt, und auf dem Führerscheinfoto war ein Mann mit einem dichten, grauen Schnauzer und ganz grauen Haaren zu sehen. Zu diesem Zweck hatte Raymond dem Senator einen erstaunlich echt wirkenden Schnurrbart angeklebt und ihm die Haare mit Haarspray grau gefärbt, wie es die Filmleute taten, wenn sie ihren Stars distinguierte, graue Schläfen verpassen wollten. Das Zeug ließ sich mit Shampoo auswaschen, was
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