Vor Jahr und Tag
Rumschleichen für die Katz.«
»Pst! Vielleicht liegen sie ja auf der Rückbank.«
»Nie und nimmer.« Der Junge richtete sich auf. »Schau, die Fenster sind alle zu. Keiner treibt’s bei der Hitze in einem geschlossenen Auto.«
»Vielleicht is die Karre ja geklaut, und jemand hat sie einfach hier deponiert.« Sie blickten sich um, und ihre starken jungen Hände umschlossen die Gewehre unwillkürlich fester. Ohne weitere Heimlichtuerei traten sie nun offen an den Wagen heran. Es handelte sich um einen weißen, viertürigen Pontiac, der mit einer dicken roten Staubschicht überzogen war. Der große Junge beugte sich vor und spähte durch das Fahrerseitenfenster. Dann zuckte er so heftig zurück, daß er stolperte und beinahe hinfiel.
»Shit! Da liegt ’n Toter drin!«
Karen spürte die Hitze, sobald sie aus dem Flugzeug stieg. Die feuchte Luft war kaum zu atmen, und sofort brach ihr der Schweiß auf der Stirn aus, während sie ihre schwere Tragetasche den leicht ansteigenden Gang hinaufschleppte. Sie hatte sich ein leichtes, kurzärmeliges Sommerkostüm angezogen, das ihr im Flugzeug zu kühl vorgekommen war, doch nun brach ihr der Schweiß in Strömen aus. Ihre Beine kochten in den Nylonstrümpfen, und der Schweiß lief ihr den Rücken herunter.
Detective Chastain hatte recht gehabt, was die Fluggesellschaften betraf. Sie hatte nur angerufen, mit einer mitfühlenden Dame von der Reservierung gesprochen und sich danach direkt hetzen müssen, um ihre Sachen noch packen zu können und das Flugzeug noch rechtzeitig zu erreichen. Sie hatte keine Zeit gehabt, vor dem Abflug noch etwas zu essen, und beim Anblick des Truthahnsandwiches, das man ihr während des Fluges servierte, hatte sich ihr der Magen umgedreht. Sie konnte Truthahn nicht ausstehen; und mit ihrem zusammengekrampften Magen und einem Schädel, der vor Schmerzen nur so hämmerte, hätte sie es nie und nimmer essen können.
Die Kopfschmerzen waren inzwischen nicht besser geworden. Mit wild pochendem Schädel folgte sie den Schildern zur Gepäckausgabe. So hatte sie sich noch nie gefühlt, nicht mal, als ihre Mutter starb. Damals war ihr Kummer scharf und überwältigend gewesen. Jetzt jedoch konnte sie nicht sagen, was sie fühlte. Falls es Trauer war, dann von einer anderen Art. Sie war wie betäubt, nahm alles nur mehr wie aus weiter Ferne wahr und kam sich seltsam zerbrechlich vor, als hätte sich ihr Innerstes kristallisiert und könnte beim geringsten Anlaß in tausend Scherben zerbrechen.
Das Gewicht ihrer Tasche zog ihr den Arm herunter und verursachte Schmerzen in ihrem Schultergelenk. Selbst hier im Terminal kam ihr die Luft furchtbar stickig vor, als ob die Feuchtigkeit durch die Wände des Gebäudes dringen würde. Auf einmal fiel ihr ein, daß sie sich ja gar keine Unterkunft besorgt hatte. Sie stand vor dem Gepäckkarussell und sah alle möglichen Koffer und Gepäckstücke an sich vorbeiziehen, nur nicht ihrs. Sie fragte sich, ob sie überhaupt noch genug Kraft haben würde, um sich vom Fleck zu bewegen.
Schließlich spuckte das Förderband auch ihre Reisetasche aus. Mit einem festen Griff um das Schulterband ihrer Handtasche beugte sie sich vor, um sich die Tasche vom Band zu holen, als diese vorbeitrudelte. »Warten Sie, ich nehm sie schon«, sagte ein untersetzter Mann mit einer beginnenden Stirnglatze neben ihr und holte die Tasche schwungvoll vom Band herunter.
»Vielen Dank«, sagte Karen sichtlich erleichtert, während er ihr die Tasche zu Füßen stellte.
»Gern geschehen, Ma’am.« Mit einem abschließenden Kopfnicken wandte er sich wieder dem Band zu, um nach seinem eigenen Gepäck Ausschau zu halten.
Karen versuchte sich zu erinnern, wann das letzte Mal ein Fremder so nett zu ihr gewesen war, aber es fiel ihr nicht ein. Diese kleine Geste durchbrach beinahe die segensreiche Betäubung, in der sie sich befand.
Ihr Taxifahrer war ein schlaksiger junger Schwarzer mit Dreadlocks und einem ansteckenden Lächeln. »Wohin an diesem schönen Tag?« fragte er mit seiner singenden
Stimme, als er sich hinters Steuer setzte, nachdem er ihr Gepäck im Kofferraum verstaut hatte.
Schöner Tag? Fast vierzig Grad und so feucht wie in einer Sauna, das nannte er einen schönen Tag? Und dennoch: Der Himmel war makellos blau, keine Wolke in Sicht, und sogar bei dem Auspuffgestank in dieser Welt aus Beton konnte sie den frischen, süßen Duft tropischer Vegetation riechen.
»Ich hab noch keine Unterkunft«, erklärte sie. »Ich muß zum
Weitere Kostenlose Bücher