Vor Jahr und Tag
Das meiste war Routinezeug, Notizen, Memos, Berichte, die er angefordert hatte.
Er verfügte über eine ganze Menge Kontakte in der Stadt, eine Menge Informanten, die lieber ihre Kumpels verpfiffen, als bei ihm in Ungnade zu fallen. Das meiste von dem, was er erfuhr, war Kleinkram, aber manchmal paßte eine dieser Kleinigkeiten exakt in das Gesamtbild, das er bereits hatte, und sein Fall war gelöst.
Er glaubte nicht, daß sie auf seinen Anruf reagieren und sich bei ihm melden würde, was er ihr bei seinem Ton nicht verargen konnte. Und das war im Moment vielleicht sogar das beste. Wenn er sich erst wieder ganz beruhigt hatte, würde er sie anrufen und versuchen, ihr Verhältnis wieder ins Gleis zu bringen.
Ihre Nachricht traf ihn daher vollkommen überraschend. Er hielt inne, lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück und hörte grimmig zu. Sie klang richtig kleinlaut. »Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht hab, aber-ach, was soll’s. Ich hab mich richtig blöd benommen, und es tut mir leid.«
Ja, was dachte sie? Sie dachte verdammt zuviel, das war das Problem. Er konnte fast die Rädchen schnurren hören, die Gedanken, die hinter ihren Worten steckten. Diese Frau wußte einfach nicht, wie man sich zurücklehnt und Spaß hat, sie mußte für alles die Verantwortung übernehmen.
»Mist«, knurrte er und stieß geräuschvoll den Atem aus. Er hätte wissen sollen, daß sie sich beim Aufwachen Vorwürfe über ihr - in ihren Augen - unverantwortliches Verhalten machen würde. Er hatte so aufgepaßt, sie ja nicht zu verschrecken, bevor er mit ihr im Bett war, wie sollte sie wissen, daß er nicht bloß einen One-Night-Stand im Sinn gehabt hatte. Sie allein im Bett zurückzulassen, um duschen zu gehen, war ein schlimmer taktischer Fehler gewesen, einer, den er ganz gewiß nicht wiederholen würde.
Sexuell knisterte es so stark zwischen ihnen, daß es ihm den Atem nahm, und was das Ganze noch erregender machte, war die Tatsache, daß sie nicht sehr erfahren war. Das hatte er sofort erkannt. Kein naives Ding, keine Jungfrau, aber eben nicht gewöhnt, mit einem Mann zu schlafen. Er vermutete, daß sie ihre Sexualität ebenso stark unterdrückte wie ihre Gefühle. Aber letzte Nacht, da hatte sie ihre Beherrschung fallen lassen und sich in die süßeste, heißeste Frau verwandelt, die er je im Bett gehabt hatte. Er hatte nicht gewußt, daß er ihn so oft hochbekommen konnte, aber Teufel noch mal, sie hatte es dringend gebraucht, und er hatte die Herausforderung angenommen.
Was ihn betraf, so war er durchaus erfahren, aber so intensiv hatte er es selbst noch nie erlebt. Ihr mußte diese Nacht wie die reinste Orgie vorgekommen sein.
Er griff nach dem Telefon, um sie anzurufen, hielt dann jedoch inne. Er hatte sich zwar wieder ein wenig beruhigt, war aber immer noch zornig, und seine Selbstbeherrschung war nach der Mordsache mit dem kleinen Jungen erschüttert. Er mußte so schnell wie möglich mit ihr reden, damit sie keine Zeit hatte, noch mehr Wände um sich herum aufzubauen, doch andererseits riet ihm die Vorsicht, noch ein wenig zu warten. Wenn er sie jetzt anrief, würde er sie vielleicht anbrüllen und damit alles nur noch schlimmer machen. Wenn er sie anbrüllte, würde sie sich noch tiefer in ihr Schneckenhaus zurückziehen und vielleicht überhaupt nicht mehr mit ihm reden.
Er zwang sich, die Berichte der anderen Polizeiabteilungen weiterzulesen und die Computerausdrucke durchzublättern. Er hielt inne, als er auf den Bericht der Mississippi State Police in Louisiana stieß. Das Mordopfer war ein Weißer, siebenundfünfzig Jahre alt, namens Rick Medina. Es war zweimal mit einer 22er auf ihn geschossen worden. Sein Geld und seine Kreditkarten waren gestohlen.
Es wurden dauernd Leute mit 22ern erschossen; immerhin war dies die am weitesten verbreitete Handfeuerwaffe. Reiner Instinkt bewog ihn, den Bericht aus dem Stapel herauszuziehen. Vielleicht irrte er sich ja, aber das Opfer war ungefähr im selben Alter wie Karens Vater, und die Grenze nach Mississippi war nicht weit.
Er hatte alle Hände voll zu tun mit dem Mord an dem kleinen Jungen; er hatte keine Zeit, einer derart wackeligen Spur nachzujagen. Vielleicht existierte ja überhaupt keine Verbindung zwischen den beiden Fällen. Und trotzdem, ignorieren konnte er es nicht.
Er fand Shannon beim Getränkeautomaten, wo er mit einer Beamtin aus der Verwaltung flirtete. »Hey, Antonio.«
Shannon richtete sich auf, die Augen mit einemmal wachsam und
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