Vor Jahr und Tag
das kann ich als Entschuldigung gelten lassen«, brummte Piper und erwiderte ihre Umarmung. »Es tut mir leid, Schätzchen. Muß hart für dich gewesen sein, obwohl du deinem Vater nicht sehr nahestandest. Was ist passiert?«
»Er wurde ermordet. Erschossen.«
Piper rang schockiert nach Luft, und die beiden anderen Schwestern im Schwesternzimmer drehten sich mit faszinierten, erschrockenen Mienen zu ihr um. Karen schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter. »Es war eine Schießerei in einer Hinterhofgasse. Keine Zeugen.«
Piper stieß den Atem aus. »Liebe Güte, das ist hart. Vielleicht hättest du dir noch ein paar Tage freinehmen sollen.«
»Nein, arbeiten ist leichter.« Das war es immer. Solange sie beschäftigt war, konnte sie mit allem fertigwerden.
»Warum kommst du nicht für ein paar Tage zu mir?«
Karen verdrehte die Augen und mußte lachen. »Wozu sollte das gut sein? Du arbeitest Tagschicht, ich in der Nacht.«
»Tja, ich glaub, du hast recht.« Piper ließ sich die Situation durch den Kopf gehen. Sie war eine kräftige Frau mit einem Mop kurzer schwarzer Locken und dem freundlichsten Gesicht, das man sich vorstellen konnte. Die Patienten fühlten sich schon besser, wenn sie sie bloß sahen, nicht, weil sie eine solche Schönheit war, sondern weil sie förmlich strotzte vor guter Laune. Ihr Liebesleben war, im Gegensatz zu Karens, ebenso aktiv wie der Mauna Loa auf Hawaii. »Tja, solange du nicht auf Tagschicht umsteigst, mußt du selbst sehen, wie du fertigwirst.«
»Na dann, vielen Dank auch.« Karen lachte über Pipers selige Ungerührtheit und stimmte eine bekannte Melodie an.
»I’ll be there for youuuu«, fielen die beiden anderen hinter ihr sofort mit ein.
Piper schnappte sich einen Tacker und fuchtelte damit drohend vor den beiden herum. »Ich kann euch auch noch für ’ne zweite Schicht an diese Stühle nageln, wenn ihr’s unbedingt wollt.«
Judy Camliffe kam energischen Schritts hereinmarschiert. »Hallo, Leute. Wie geht’s, Karen?«
Noch wenige Tage zuvor wäre Karen eine solche Frage, selbst wenn sie von Piper gekommen wäre, unangenehm gewesen, doch jetzt kam es ihr irgendwie sinnlos vor, sich weiter vor den anderen einzuigeln. Ihre Verteidigungswälle waren ja bereits überwunden worden. Trotz all ihrer Vorsicht und Mühe hatte Marc sie durchschnitten wie Butter mit einem heißen Messer. Und trotz der Jahre, in denen sie den Zorn auf ihren Vater gepflegt hatte, hatte sie feststellen müssen, daß sie nicht so wütend gewesen wäre, wenn sie ihn nicht geliebt hätte.
Sie lächelte ihre Freunde an. »Ich weiß nicht, ob’s mir schon wieder gutgeht, aber arbeiten ist besser, als nicht arbeiten.« Sie hielt inne. »Aber danke für die Nachfrage.«
Judy nickte und drehte sich dann zu den Tabellen und Diagrammen auf dem Schreibtisch herum. »Okay, also, was läuft?«
Karen berichtete ihr von der besorgniserregenden Temperatur von Mr. Gibbons, die mittlerweile neununddreißig zwei betrug. Das Labor hatte sich noch nicht wegen der Ergebnisse der Blutprobe gemeldet, und Dr. Pierinis Visite begann in einer halben Stunde.
»Ich werd ihnen ein wenig Dampf machen«, sagte Judy und griff nach dem Telefonhörer. »Oh, ich weiß jetzt, was mit Ashley los ist.«
»Durchfall, sagtest du.«
»Ja, aber was ihn verursacht hat.« Sie wandte ihre Aufmerksamkeit dem Telefon zu. »Oh, hi, hier ist Judy aus der Chirurgischen. Ist der Befund von Gibbons schon da? Sicher.« Während sie wartete, wandte sie sich wieder ihren Kolleginnen zu. »Sie dachte zuerst, sie hätte was Schlechtes in der Cafeteria gegessen und hat denen dort die Hölle heiß gemacht, aber da es sonst niemanden erwischt hatte, haben sie sie ignoriert. Diesmal hat sie die Ursache rausgekriegt: Gummibärchen.«
» Gummibärchen?« meinte Piper entsetzt. Sie liebte die Dinger.
»Sie ist auf Diät, also hat sie sich ’ne Packung zuckerfreier Gummibärchen fürs Kino gekauft. Vier Stunden später ging’s los.« Judy klemmte sich das Telefon ein wenig bequemer zwischen Hals und Schulter. »Gestern ging sie einkaufen, hat noch ’ne Packung gekauft, und dasselbe passierte. Bloß daß die Gummibärchen diesmal das einzige waren, was sie gegessen hat. Sie sagte, sie bekam solche Blähungen und Krämpfe, daß es kaum auszuhalten war.«
»Immerhin«, bemerkte die praktische Piper, »hat sie dabei wahrscheinlich ein paar Pfund abgenommen.«
Alle lachten. »Ja«, sagte Judy, »aber sie meinte, das wär’s nicht wert gewesen.« Sie
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