Vor Jahr und Tag
würden sie in ein Motel gehen. Piper war nicht doof; sie würde kapieren, daß es besser war, im Moment nicht nach Hause zu gehen. Morgen, ja morgen würden sie sich etwas anderes einfallen lassen. Piper hatte eine Schwester, bei der sie bleiben konnte.
Und Karen wußte, wo sie hingehen würde. Wenn sie schon untertauchen mußte, dann dort, wo sie im Moment am allerliebsten wäre. Sie würde nach New Orleans gehen. Zu Marc. Alles, was sie tun müßte, war, bis dahin am Leben zu bleiben.
Marc legte stirnrunzelnd den Hörer auf. Karen war immer noch nicht zu Hause. Er hatte schon zweimal angerufen, obwohl er immer noch stinksauer war, denn nach dem Blutbad im Garden District war es ihm auf einmal viel wichtiger erschienen, mit ihr zu reden, als sich zu beruhigen. Selbst wenn er noch zornig war, mußte sie erfahren, daß ihm genug an ihr lag, um sich mit ihr in Verbindung zu setzen. Er hatte sie nicht verschrecken wollen, doch hatte er einen Fehler gemacht, ihr nicht zu zeigen, daß sie ihm mehr bedeutete als bloß ein heißes Abenteuer für eine Nacht. Normalerweise war er nicht so ungeschickt, wenn es um Liebesaffären ging, aber Teufel noch mal!
Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Die Betonung hatte früher immer auf Affäre gelegen. Doch jetzt lag sie auf dem anderen Wort.
Liebe. Er war noch nie zuvor verliebt gewesen. Einige seiner Damen hatte er zwar sehr gemocht, aber noch nie hatte er eine derartige Faszination, eine derartige Besessenheit für eine Frau verspürt. Er liebte sie, und das jagte ihm eine Heidenangst ein. Und wenn er nun das Falsche machte? Es kam ihm vor wie ein gefährlicher Balanceakt zwischen dem Wunsch, sie nicht zu verschrecken, und der Sorge, sie könne denken, es liege ihm gar nichts an ihr.
Zum Teufel damit, dachte er. Von jetzt an würde er tun, was ihm sein Instinkt riet, und das war, so schnell wie möglich zu handeln. Verdammt noch mal dafür zu sorgen, daß sie und auch jeder andere wußte, was seine Absichten waren. Das primitive Bedürfnis, sein Territorium abzustecken, ging über das rein Physische hinaus, natürlich war es herrlich, mit ihr zu schlafen, aber er wollte auch all die rechtlichen Bedingungen, er wollte seinen Ring an ihrem Finger sehen, wollte, daß alle ihn sahen.
Aber wo zum Teufel war sie?
So wie er Karen kannte, hatte sie letzte Nacht gearbeitet, obwohl sie die Nacht davor kaum geschlafen hatte, obwohl sie am Morgen erst mit dem Flugzeug angekommen war und sich mit dem Gepäck abgeschleppt hatte. Er hatte nur deshalb nicht schon früher angerufen, weil er annahm, daß sie noch schlafen würde, aber jetzt war es so spät, daß sie sicher auf war. Der Abend war hereingebrochen, und im Viertel wimmelte es noch von Touristen auf der Suche nach einem guten Abendessen, heißer Musik und vielleicht einer zwielichtigen Stripbar, alles Dinge, die New Orleans im Überfluß zu bieten hatte.
Ihm kam der Gedanke, daß sie seine Privatnummer ja gar nicht hatte und auch über die Information nicht bekommen konnte, da es eine Geheimnummer war. Er wählte sie erneut an und hinterließ ihr eine dritte Nachricht, in der er ihr seine Nummer auf Band sprach und mit den Worten endete: »Ruf mich an, Süßes. Egal, wie spät du heimkommst. Bitte ruf mich an.«
Seine Handynummer hatte sie jedoch. Vielleicht hatte sie ja auf seiner Voice Mail eine Nachricht hinterlassen. Er wählte noch einmal und hörte dann seine Nachrichten ab. Es waren bloß zwei, eine von irgendeinem Penner, der dachte, er könne sich lieb Kind bei ihm machen, indem er ihm Informationen verkaufte, die er schon seit zwei Tagen kannte, aber die zweite Nachricht kam von Karen. Sein Herz klopfte wie wild gegen seine Rippen, als er ihre Stimme hörte.
»Hier spricht Karen. Jemand versucht mich umzubringen. Ich komme morgen früh um zehn Uhr dreißig mit dem Flug Nummer sechzehn einundzwanzig, American Airlines.«
Sämtliche Haare stellten sich ihm auf. Fluchend und schwitzend wartete Marc, ob sie noch hinzufügte, wo sie im Moment zu erreichen war, aber er hörte nur ein Klicken und dann Stille.
Gottverfluchtnochmal! Er stand auf und wanderte langsam im Wohnzimmer auf und ab. Das Ganze mußte mit ihrem Vater Zusammenhängen, genauso wie der Mord an Medina. Aber wie? Ein Vergleich der Kugeln aus Rick Medinas und Dexter Whitlaws Leichen hatte keine Übereinstimmung ergeben, aber bloß weil sie nicht mit derselben Waffe getötet worden waren, hieß das noch lange nicht, daß die beiden Morde nicht in
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