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Vor meinen Augen

Vor meinen Augen

Titel: Vor meinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Kuipers
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Sie fragte mich, ob ich am Freitag zu ihr nach Hause kommen wollte, aber weil ich vorhabe, zu Abigails Feier zu gehen, musste ich nein sagen. Es war ein langer, laaaanger Weg. Wir kamen durch den Park und gingen durch den Irrgarten und verliefen uns, was irgendwie lustig war. Danach saßen wir im Gras und sahen zu, wie der graue Himmel dunkler wurde. Sie erzählte, dass die Luft in Canmore im Winter vor Eis glitzert, und sie erzählte auch von den Nebensonnen. Ich bat sie, sie mir zu beschreiben. Es ist anscheinend irgendein verrücktes Wetterphänomen, bei dem der Himmel aussieht, als hätte er drei Sonnen. Dann fing sie an, über ihre Mum zu reden. Sie erinnert sich nicht an sehr viel, hauptsächlich nur an Dinge von Fotos. Sie fragte mich: »Würdest du dir vielleicht ein Gedicht anhören, das ich über sie geschrieben habe? Darf ich es dir vorlesen?«
    Ich nickte. Sie las es mir leise vor. Während ich zuhörte, fing ich an, an meine Mum und den furchtbaren Streit von Sonntagabend zu denken. Mum ist offensichtlich verrückt. Für mich ist klar, dass sie mich hasst und nicht damit klarkommt, dass Emily nicht mehr da ist. Sie scheint überhaupt nicht mehr arbeiten zu wollen. Dabei liebte sie ihre Arbeit als Innenarchitektin, und sie war toll darin, das Zuhause der Leute mit weichen Stoffen in grünen und erdigen Orangetönen wunderschön zu machen. Ihr Stil war sehr organisch, das hatte mir Emily einmal erklärt. Emily mit dem künstlerischen Auge. Sie mischte alle Arten von Farben und schaffte es doch immer, dass alles zusammenpasste; sie liebte die Struktur von Ölfarbe. Ich wusste nie, was ich sagen sollte, wenn die beiden »Kunst« miteinander redeten, denn ich habe überhaupt kein Kunstverständnis.
    Rosa-Leigh beendete ihr Gedicht. Ich bat sie, es noch einmal vorzulesen und konzentrierte mich stärker. Die Kälte kroch wie entsetzliches Elend in meine Knochen. Das Gras roch feucht, wie Kompost. Mit ihrem Gedicht schuf Rosa-Leigh ein Bild ihrer Mutter in der erdigen Luft. Ich schauderte, als sie das Gedicht zum zweiten Mal zu Ende vorgelesen hatte und sagte: »Das hat mich berührt.« Ich kam mir dumm vor, dass ich es so einfach ausdrückte, aber es stimmte, und für Rosa-Leigh schien es in Ordnung zu sein. Dann holte ich tief Luft und sagte: »Meine Mum sammelt Dinge, die andere Leute verloren haben.«
    Rosa-Leigh lehnte sich auf ihre Ellbogen zurück und fragte: »Warum?«
    »Ich weiß es nicht. Das hat sie schon immer gemacht. Sogar, als meine Schwester noch da war. Ich glaube sogar, als mein Dad noch lebte, aber daran kann ich mich nicht wirklich erinnern. Sie hat einige Handschuhe und ein paar Socken, was ziemlich eklig ist, und sie ist richtig stolz auf ihre einzelnen Ohrringe. Es ist so verrückt – niemand auf der GANZEN Welt sammelt Sachen, die andere Leute verloren haben.«
    »Was ist denn mit deinem Dad und deiner Schwester passiert?«
    Ich konnte gar nicht glauben, dass sie das von Emily nicht wusste. Mein Inneres ballte sich zusammen wie eine Faust. »Dad starb, als ich noch klein war. Er hatte Krebs, aber ich war zu klein, um mich wirklich an ihn zu erinnern. Ich war erst zwei. Es gab dann immer nur mich und Mum. Und Emily …« Ich musste eine Pause machen, bevor ich weiterredete. Ich sagte: »Meine Schwester …« Ich beendete den Satz nicht.
    Sie schwieg. Ich hörte ein Rascheln, als sie sich völlig zurücklegte. Sie sagte: »Schau mal nach oben.«
    Ich tat es ihr nach und legte mich hin. Der Himmel drehte sich in meiner Benommenheit.
    Sie sagte: »Kannst du sehen, wie die Sterne rauskommen? Man sieht in London nicht so viele Sterne.«
    Ich sagte: »Ich vermisse Emily so sehr, die ganze Zeit.«
    »Kommst du klar?«
    Ich starrte nach oben und blinzelte die Tränen zurück. »Ich glaube schon. Mir geht’s gut.«
    »Was hat deine Mutter denn sonst noch in ihrer Sammlung?«
    »Zeitungsartikel über entführte Babys und über Leute, die vermisst wurden. Dann eine Goldmünze und ich weiß nicht, was noch alles. Ich war schon ewig nicht mehr in ihrem Zimmer.«
    Rosa-Leigh sagte: »Ich frage mich immer, wie meine Mom war.«
    »Wie ist sie denn gestorben?«
    »Sie wurde von einem Betrunkenen überfahren. Ich wünschte, ich könnte mich an sie erinnern. Joshua und Jack reden manchmal über sie. Dadurch konnte ich auch das Gedicht schreiben.«
    »Es war wirklich gut.«
    »Danke. Wenn ich schreibe, fühle ich mich irgendwie besser.«
    Ich sagte nichts. Es begann zu regnen. Als wir uns aufsetzten,

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