Vor meinen Augen
vorbeikommt. Anscheinend ging es mir trotzdem noch im Kopf herum. Rosa-Leigh wurde ziemlich still.
»Was ist? Ich komme einfach nicht klar damit, dass meine Mum mir das antut«, sagte ich.
»Na ja, was, wenn deine Mum im Augenblick einfach einen Freund braucht?«, fragte Rosa-Leigh vorsichtig, als wollte sie mich nicht aufregen, aber könnte auch nicht anders, als zu fragen.
»Und was ist mit mir?«, fragte ich und hörte selbst, dass ich egoistisch klang.
»Vielleicht braucht sie eben jemand, der ihr durch die ganze Sache hindurchhilft.«
»Ich finde, du solltest sie nicht verteidigen.«
Es gab eine unangenehme Pause. »Okay«, sagte Rosa-Leigh. Dann wechselte sie das Thema. Sie sagte: »Abigail hat mich gefragt, ob ich am Freitag zu ihrer Party kommen will.«
»Noch eine Party?«
Sie sagte: »Willst du mitkommen?«
»Ich kann nicht«, log ich. »Hör mal, meine Mum ruft mich. Ich muss Schluss machen.« Ich legte auf und fühlte mich ganz merkwürdig. Klar könnte ich zu der Party gehen. Ich habe am Freitag überhaupt nichts vor. Aber Abigail hat mich nicht eingeladen, obwohl wir angeblich wieder Freundinnen sind.
Manchmal wünschte ich, ich wäre Tausende von Meilen entfernt. Irgendwo anders. Mit einem anderen Leben und einer anderen Mutter und einer Familie wie die der Haywoods oder wie die von Rosa-Leigh. Ich gehe jetzt unter die Dusche und DENKE NIE MEHR AN IRGENDETWAS DAVON.
Mittwoch, 12. April
Heute Abend saß ich auf dem Dach und hörte Radio. Es war warm genug, so dass ich nur einen dünnen Pulli brauchte. Der Frühling hat endlich den Winter abgelöst und bald wird es Sommer sein. Wie ich so da oben saß, dauerte es nicht lange, und ich dachte an den Sommer im letzten Jahr. Ich dachte an den Abend, an dem Emily schließlich für den restlichen Sommer nach Hause kam.
Ich erinnere mich, dass Mum und ich stundenlang gewartet hatten. Wir saßen da und sahen zu, wie es langsam dunkel wurde und taten so, als interessiere uns das Fernsehprogramm. Irgendwann sagte Mum: »Sophie, hör auf, so mit deinen Fingern auf den Tisch zu trommeln.« Ein wenig später sagte sie: »Du hast doch sicher noch irgendwas Besseres zu tun«, aber sie war nur deshalb so grummelig, weil Emily zu spät kam.
Ich sah aus dem Fenster. Nach einer Weile holte ich mir ein Buch. Mum fragte mich, was ich läse, und es schien fast, als sei sie ehrlich interessiert, aber ich ignorierte sie. Als Emily dann endlich ankam, liefen wir ihr entgegen und umarmten sie, und wir waren so damit beschäftigt, sie zu umarmen, ihr mit dem Gepäck zu helfen und das Essen wieder auf den Tisch zu stellen, dass die lange Warterei so gut wie vergessen war.
Ich wünschte, ich könnte jede Minute dieses langen Abends noch einmal erleben. Auf Emily zu warten, das war – wie sich jetzt herausstellte – so viel besser, als nicht auf sie zu warten.
Emily zog ihre roten Ballerinas aus. Sie band ihr Haar in einen Pferdeschwanz, so dass man ihre Mondsteinohrringe sehen konnte. Ihr flippiges, kurzes Kleid hatte überall rote und silberne wirbelnde Kreise. Ich sah an meinen Jeans hinab. Ich könnte nie ein solches Kleid tragen. Emily streichelte Fluffy, die zufrieden schnurrte, dann ging sie zum Essen in die Küche.
Wir setzten uns zu ihr, und sie erzählte von ihren Kursen und dem Ferienjob, den sie angenommen hatte: Leuten im Sozialzentrum beim Malen und Zeichnen zu helfen, damit sie schlimme Erfahrungen verarbeiten konnten. Emily hatte immer schon Jobs, in denen sie gute Taten vollbrachte. Als sie noch jünger war, arbeitete sie in einem Altersheim oder verbrachte manche Wochenenden als Freiwillige in einem Zentrum für lernbehinderte Kinder. Ich habe gesehen, wie Emily auf der Straße stehenblieb, um einem Obdachlosen ein Sandwich zu schenken, das sie für sich selbst gekauft hatte.
Ich sah zu, wie sie redete, ihr Mund bewegte sich schnell und manches unterstrich sie mit den Händen. Sie erzählte uns, dass sie einen neuen Freund habe, und ich überlegte, ob ich ihn wohl schon kennengelernt hatte. Ich war zweimal in Leeds gewesen und hatte bei ihr übernachtet – in einem riesigen Haus voller Leuten mit bunten Zimmern, in denen ein ständiges Kommen und Gehen war. Einer von ihnen wollte Pilot werden; ein anderer wollte beim Fernsehen arbeiten. Ob ihr neuer Freund vielleicht der Typ war, der das Zimmer unter ihr hatte – ein gut aussehender Junge, der Emily anhimmelte, wenn sie auch nur den Mund aufmachte.
Als Emily fertig war – sie aß nur
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