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Vor meinen Augen

Vor meinen Augen

Titel: Vor meinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Kuipers
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die Hälfte der Pasta und nichts vom Salat, weil sie so viel redete –, spielte sie noch kurz mit ihrer Gabel, dann schob sie den Teller zur Seite und stand auf, um uns etwas zu zeigen. Sie kam mit einem großen Rucksack zurück in die Küche und öffnete ihn fast zeremoniell auf dem Korkfußboden. Sie zog ein paar kleine Äste – na ja, mehr so was wie große Zweige – heraus und legte sie auf den Tisch. Ich nahm ihren Teller, kratzte die Reste in den Abfall und stellte ihn in den Geschirrspüler. Mum machte uns allen eine Tasse Tee. Emily erklärte uns, dass die Zweige ein Stammbaum werden sollten – ein Projekt, an dem sie gerade arbeitete. Von jedem Ast wollte sie Blätter mit den Gesichtern unserer Familienmitglieder herabhängen lassen.
    Mum fiel ein, dass sie ein altes Album hatte, auf dessen erster Seite ein Stammbaum sei, und sie ging es holen. Während sie weg war, zwinkerte Emily mir zu und legte ihre Hand auf meinen Arm. Sie fragte mich, wie es mir ginge.
    »Gut. Bin froh, dass es Sommer ist«, sagte ich. Ich wollte noch so viele Sachen erzählen, aber plötzlich war ich verlegen, weil wir uns nicht mehr viel gesprochen hatten, während sie in Leeds war. Ich sah weg und dann wieder zurück und gab mir einen Ruck, um mit ihr zu reden.
    Sie beugte sich vor, um etwas zu sagen, aber dann klingelte ihr Handy, und sie sagte das, was immer sie zu mir sagen wollte, nicht, sondern ging ans Telefon. Sie sprach leise. Ich lauschte und versuchte herauszufinden, wer es war. Ihre Stimme klang beschwingter, wenn sie sich mit ihren Freunden unterhielt, als wenn sie mit uns sprach. Sie klang dann für mich fast wie eine Fremde. Als sie schließlich auflegte und sich wieder setzte, dachte ich, jetzt könnte ich mit ihr allein reden. Doch dann kam Mum herein, und die Gelegenheit war vorbei.
    Mum zeigte Emily die Namen von längst verstorbenen Familienmitgliedern. Ich sah aus dem Fenster und wünschte, es gäbe Sterne, die ich zählen könnte. Die vielen Lichter in London bedeuteten, dass ich die Sterne nur selten sehen konnte. Zu viel Kunstlicht und Wolken. Plötzlich fühlte ich mich einsam und hörte wieder zu, worüber sie redeten. Emily überlegte gerade, ob verwelkte Blätter die Toten repräsentieren könnten, wie Dad zum Beispiel. Das kam mir irgendwie morbide vor.
    Mum schaltete das Licht aus und zündete Kerzen an. Ich sah zu, wie die kleinen Flammen tanzten. Es war schön, Emily zu Hause zu haben. Ich hatte die Unruhe, die Aufregung und das Durcheinander vermisst – all das, was mit ihrer Anwesenheit zusammenhing; wie sie mir heimlich zuzwinkerte, wenn Mum mich mal wieder nervte, und wie sie mich besser kannte, als jeder andere auf der Welt.
    Emily und Mum redeten immer noch. Ich sah zu, wie die Kerzen weiter abbrannten, sah die Umrisse, die von den Schatten geformt wurden. Als die letzte Flamme anfing zu flackern, sagte Mum, es wäre Zeit, ins Bett zu gehen.
    Emily stimmte ihr zu. Sie war müde, weil sie die vorhergehende Nacht noch mit Freunden unterwegs gewesen war. Ich war eifersüchtig auf diese Leute, die an meiner Stelle Zeit mit ihr verbringen durften. Und enttäuscht. Ich wollte gerne noch allein mit meiner großen Schwester reden. Mum bot uns heiße Schokolade an. Normalerweise hatte sie nie Zeit, mir heiße Schokolade zu machen, und jetzt hätte ich fast aus Trotz nein gesagt, aber ich tat es nicht. Mum machte für jeden von uns eine Tasse, und ich nahm meine mit hoch in mein Zimmer. Ich hörte, wie Emily im Nebenzimmer an ihr Handy ging und mit jemandem bis tief in die Nacht plauderte. Ich lauschte dem Klang ihrer Stimme und schlief ein.
    Ich wünschte, ich könnte sie wieder hören.

    Ich wachte mitten in der Nacht auf und konnte Emily hören. Ich konnte sie HÖREN. Es war, als ob sie auf meinem Bett säße und in mein Ohr flüsterte. Und sie sagte: »Warum ist das passiert? Es ist nicht fair.« Sie sagte es immer und immer wieder, bis ich mir die Ohren zuhielt, damit es aufhörte. O mein Gott, ich habe das Gefühl, als fiele ich aus großer Höhe und niemand könnte mich auffangen.

Donnerstag, 13. April
    Rosa-Leigh rief gerade an und fragte, wie es mir ginge. Ich hatte eigentlich keine große Lust, mit ihr zu reden, aber sie sagte geradeheraus: »Ich weiß, du bist sauer, weil ich das über den Freund deiner Mutter gesagt habe.«
    »Ich bin nicht sauer.«
    »Also, jedenfalls tut es mir leid.«
    »Ich kann gerade nicht an sie denken.«
    »Mir auch recht. Und ich weiß, dass du auch wegen

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